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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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dies hier ist eine arme Einsiedelei. Wir feiern nicht viele Feste. Wir haben keine solchen Kostüme.«
    Shan stand auf und hob den Blick. »Ich habe befürchtet, ich würde Tamdin hier finden. Ich mußte...« Er beendete den Satz nicht.
    »Nicht hier. Hier...« Tsomo wies ehrfürchtig auf die stummen Gestalten in den Regalen. »Hier liegen bloß ein paar schlafende alte Männer in ihrem Berg.«
    Shan wich zurück. Der Anblick der mumifizierten Einsiedler von Yerpa hatte sich für immer in sein Hirn gebrannt.
    Als er die Tür schloß, lächelte Tsomo gelassen. »Manchmal besuche ich sie, um zu meditieren. Ich verspüre stets großen Frieden, wenn ich bei ihnen bin.«
    Als sie an der Tür des Mandala-Raums wieder zu Yeshe stießen, überreichte Gendun den beiden Besuchern jeweils eines der kleinen Tongefäße aus den Regalen.
    »Vor hundert Jahren hat es hier ein sehr prachtvolles Mandala gegeben, angefertigt von einem Mönch, der wenig später unser gomchen werden sollte. Das hier sind die letzten Reste des Sandes.«
    Yeshe keuchte auf und schob das Gefäß von sich. »Ich kann ein solches Geschenk nicht annehmen.«
    Gendun lächelte. »Das ist kein Geschenk. Es ist eine Vollmacht.«
    Shan sah, daß Yeshe verstand. Diese Gabe wurde ihnen zur treuen Bewahrung überreicht. Der alte Mönch legte Yeshe die Hand auf den Hinterkopf und murmelte ein kurzes Abschiedsgebet.
    Sie sprachen nicht mehr, bis sie das Felsgewirr erreichten, das aus Yerpa herausführte. Yeshe war bereits zwischen den Steinen verschwunden, als Tsomo eine Hand auf Shans Schulter legte.
    »Warum tut ihr das?« fragte Shan. »Warum bringt ihr euer Geheimnis durch mich in Gefahr?«
    »Es würde mich traurig machen, falls du es als eine Last empfändest.«
    »Keine Last. Eine Ehre. Eine Verantwortung.«
    »Trinle und Choje haben beschlossen, es sei nicht länger rechtschaffen, dich nicht davon wissen zu lassen.«
    »Aber wird es mir dabei helfen, den Mörder zu finden?« fragte Shan beinahe flüsternd und umklammerte das Sandgefäß in seiner Tasche. Sie hatten ihm eine Vollmacht verliehen. Konnten die Geheimnisse von Yerpa ihn dazu befähigen, Sungpo zu retten?
    Tsomo zuckte die Achseln. »Vielleicht wird es lediglich alles einfacher machen, falls du ihn nicht findest. Du mußt dich daran erinnern, was du an jenem ersten Tag zu mir gesagt hast. Von Laotse. Wer weiß, daß er nicht weiß, ist weise.« Der Junge deutete ein Lächeln an, das beinahe schadenfroh wirkte.
    »Da ist etwas, das mich im Hinblick auf deine Person verwirrt«, sagte Shan. »Der gomchen weiß nichts von der Welt dort draußen. Doch du bist der zukünftige gomchen. Du weißt davon. Von den Invasoren, den Morden, den Blutbädern.«
    Tsomo schüttelte den Kopf. »Ich kenne diese Dinge nicht. Man hat mir beigebracht, nicht über die Berge hinauszublicken. Ich habe von solchen Möglichkeiten gehört. So wie unser neunter gomchen von dem Großen Krieg gehört hat, und daß der Kaiser Pu Yi in Peking entthront worden ist. Aber das sind nur Worte. Als würde man die Schilderung eines fernen Planeten hören. Wie Fabeln. Keine meiner Wirklichkeiten. Ich bin ihnen nicht begegnet.« Schweigend sah er Shan einen Moment lang an. »Ich bin dir begegnet. Du bist das größte Stück Außenwelt, das ich je erfahren habe.«
    Shan wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Ich bin wohl kaum der Maßstab, nach dem man die Welt beurteilen könnte.«
    »Es besteht keine Veranlassung, ein Urteil zu fällen. Ich feiere lediglich, was der große Strom des Lebens in unsere Richtung treibt. Eines Tages hat unser gomchen in sein Buch das Bild eines Buddhas mit langen flachen Flügeln gezeichnet. Das war, was er gesehen hatte, als ein Flugzeug über uns hinwegzog.«
    Shan schaute zu dem hohen, winzigen Fenster empor, das im Schatten des Nachmittags kaum mehr zu erkennen war. »Ich beneide ihn«, sagte er.
    »Den gomchen ?«
    Shan nickte. »Ich glaube, es ist am besten, unwissend zu bleiben«, sagte er bekümmert.

Kapitel 16
    Rebecca Fowler saß an ihrem Schreibtisch, hatte den Kopf auf eine Hand gestützt und wirkte sorgenvoll.
    »Sie sehen furchtbar aus«, sagte sie, als Shan hereinkam.
    »Ich bin auf der Südklaue gewesen«, erwiderte er und versuchte, gegen die Erschöpfung anzukämpfen. »Eine kleine Erkundung.« Sergeant Feng rauchte mit einigen Arbeitern draußen eine Zigarette. Yeshe lag schlafend im Wagen. »Ich muß Sie etwas fragen.«
    »Einfach so«, sagte sie. Die Verbitterung kam zurück.

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