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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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erwiderte Shan unangenehm berührt. »Das ist kein...«
    »Bitte«, erwiderte Kincaid hartnäckig. »Ich möchte, daß Sie ihn nehmen. Als Schutz. Ich will nicht, daß Sie erwischt werden.
    Sie sind einer von uns.«
    Shan errötete verlegen und nahm die khata. Dann reihte er sich in den Strom der Passanten ein und hoffte inständig, der abgetragene Armeemantel, den er aus Lhadrung mitgebracht hatte, würde jeden zufälligen Betrachter davon überzeugen, daß es sich bei ihm lediglich um einen versprengten Soldaten handelte, der per Anhalter hergekommen war.
    Doch als er in Richtung Stadtzentrum um die Ecke bog, lag wieder die Erhabene Festung vor ihm. Lokesh war früher auch dort gewesen, erinnerte Shan sich, zunächst als junger Student, dem wegen seiner hervorragenden Noten die Ehre zuteil wurde, das getrocknete Kerzenwachs von den Altären des Potala abkratzen zu dürfen. Die Erinnerungen an jenen ersten Besuch, der vollständig in der Dunkelheit der unteren Etagen stattfand, waren fast allesamt akustischer Natur. Lokesh erzählte, daß er zwar ständig den Klang der tsingha-Zimbeln gehört habe, doch während seines einmonatigen Aufenthalts kein einziges Mal in der Lage gewesen sei, im Labyrinth der Räume den Ursprung des Geräusches ausfindig zu machen. Zu Beginn besonderer Rituale wurden die hohen jaling-Hörner geblasen, und die melodiösen vajre-Glocken riefen die Mönche zu den verschiedenen Gottesdiensten, von denen in dem riesigen Gebäudekomplex alle paar Minuten ein neuer anzufangen schien. Schließlich hatte es noch die dreieinhalb Meter langen dungchen-Hörner gegeben, deren Klang so tief war, daß er wie ein Stöhnen der Erde wirkte, und derart widerhallend, daß Lokesh nachdrücklich versicherte, das Echo sei noch Stunden später durch die unteren Etagen gewandert.
    Als Shan sich dem Museum näherte, verspürte er ein Kribbeln auf der Haut. Langsam umrundete er das Gebäude zweimal. Beim ersten Mal verharrte er in einer Menschenmenge, die bei einem Schachspiel zuschaute, nach dem zweiten Durchgang reihte er sich in die Warteschlange an einer Bushaltestelle ein. Der Mann, der ihm folgte, war ein sehr kleiner Tibeter in einer blauen Arbeiterjacke und mit einem Kohlkopf in der Hand. Seine langen, gelenkigen Arme und der scharfe, ruhelose Blick straften seinen langsamen, gebeugten Gang Lügen. Shan testete den Beschatter, indem er schnellen Schritts drei Blocks weit die Straße entlangeilte und sich dann auf eine Bank setzte. Der Mann folgte ihm auf der anderen Straßenseite und blieb an einem Gemüsestand stehen, als Shan vorgab, in einer Zeitung zu lesen, die er aus einem Abfalleimer gezogen hatte. Shan wartete so lange, bis er sich davon überzeugt hatte, daß der Mann allein war. Die Beschattungsteams der Öffentlichen Sicherheit bestanden zumeist aus mindestens drei Personen.
    Shan machte sich Vorwürfe, weil er nicht auf den Gedanken gekommen war, Jansens Büro könnte überwacht werden. Er fand einen öffentlichen Waschraum und ließ den Mantel dort zurück. Draußen stieg er in einen Bus, den er bei der nächsten Station wieder verließ. Er wechselte in einen anderen Bus und behielt sein Umfeld mit den Ohren im Blick, wie einer seiner Ausbilder in Peking es einst formuliert hatte. Es bedeutete, daß er mit allen Sinnen lauschte, um den Rhythmus der Menge in sich aufzunehmen und sofort erkennen zu können, wann und wo sich eine Änderung einstellte. Zugleich achtete er darauf, wie die Leute einander ansahen. Er mußte sich vor denen in acht nehmen, welche die anderen ignorierten.
    Nach sechs Blocks trat er wieder ins Sonnenlicht hinaus und machte sich zu Fuß auf den Rückweg zum Museum, allerdings nicht auf direktem Weg, sondern auf einer Parallelstraße und nach wie vor überaus vorsichtig.
    Plötzlich gab es hinter ihm einen lauten Knall wie von einer Pistole. Shan fuhr herum und erstarrte. Dort, keine drei Meter von ihm entfernt und mitten zwischen all den chinesischen Passanten und den zahllosen Fahrrädern, stand ein zerlumpter, ungepflegter Tibeter, der über einem Filzmantel eine dreckige Lederschürze trug. Seine Hände steckten in den Riemen zweier Holzklötze, die er nun über dem Kopf zusammenschlug. Jemand neben Shan, eine dicke Chinesin, die einen Topf Joghurt trug, bedachte den Mann mit einem Schimpfwort. »Latseng!« sagte sie. Abschaum.
    Doch der Tibeter schien niemanden auf der belebten Straße wahrzunehmen und verließ den Bürgersteig. Mit einer flüssigen Bewegung brachte er

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