Der fremde Tibeter
Großeltern gingen mit ihren Enkeln zum Markt. Die Straßen wirkten eher chinesisch als tibetisch, und mit plötzlichem Kummer erinnerte Shan sich an den Grund dafür. Die Stadt war von Peking »naturalisiert« worden, indem man zusätzlich zu den fünfzigtausend Tibetern, die hier lebten, hunderttausend Chinesen angesiedelt hatte. Soweit er sehen konnte, hatte man Lhasa, was auf tibetisch »der Wohnsitz Gottes« bedeutete, in ein weiteres dieser grauen, verräucherten Stadtgebiete verwandelt, die sich überall im modernen China fanden.
»Vielleicht können wir noch etwas mehr tun«, sagte Fowler, als Kincaid den Wagen vor dem gelbgrauen zweigeschossigen Gebäude anhielt, in dem Jansens Büro untergebracht war. »Sie wollen die Unterlagen über die Wassergenehmigungen. Aber man wird sie Ihnen nicht zeigen. Nicht ohne Legitimation.«
»Vielleicht fällt mir eine Möglichkeit ein. Ich kenne die Sprache der Bürokraten.« Shan stieg aus und wandte sich vom Wagen ab. Zum erstenmal sah er die Altstadt vor sich.
»Nein, Tyler wird gehen. Man wird es ihm nicht verweigern, wenn er darum bittet, seine eigenen Genehmigungen einsehen zu dürfen.«
Aber Shan konnte nicht antworten, denn da vor ihm war er, auf dem Gipfel des kleinen Berges, der sich über der Stadt erhob. Genaugenommen war es der gesamte Berg, der das Stadtbild beherrschte. Seine mächtigen unteren Mauern, strahlend weiß und steil aufragend, verliehen dem Hauptgebäude den Anschein eines riesigen goldbedachten Tempels, der über dem Schnee des Himalaja schwebte. Die Klippe des Daseins, hatte Trinle diese Mauern einst in einer Wintergeschichte genannt, so hoch, so unerschütterlich, so verlockend, daß sie ihn an den Weg zur Buddhaschaft denken ließen.
Noch nie im Leben hatte Shan Angst gehabt, etwas anzusehen. Er fühlte sich unwürdig, dieses Gebäude anzustarren. Er hatte sich geirrt. Ein Teil von Gottes Wohnsitz hatte überdauert. Er schaute kurz hinab auf seine Füße und wunderte sich, wie plötzlich ihn diese Gefühle übermannten Dann richtete sein Blick sich wieder auf den Potala-Palast, ohne daß er etwas dagegen tun konnte.
»Was machen Sie da?« fragte Kincaid auf einmal und streckte die Hand aus, als wolle er Shan auffangen.
Shan bemerkte, daß er unbewußt auf die Knie gefallen war. »Ich schätze«, sagte er, immer noch völlig verwundert, »ich tue dies hier.« Und dann verneigte er sich und berührte mit der Stirn den Boden, wie es sonst nur die Pilger taten, wenn sie das heilige Bauwerk zum erstenmal erblickten.
Die meisten der alten Yaks hatten eigene Namen dafür oder liebten es, die vielen Bezeichnungen aufzuzählen, die dem Gebäude in der tibetischen Literatur verliehen worden waren. Der Sitz des Allerhöchsten. Das Juwel in der Krone. Die Erhabene Festung. Buddhas Tor. Einer der jüngeren Mönche hatte stolz berichtet, er habe den Potala in einer westlichen Zeitschrift auf einer Liste der Weltwunder gesehen. Die alten Yaks hatten bei dieser Neuigkeit höflich gelächelt. Jetzt wußte Shan, was sie in diesem Moment alle gedacht hatten: Der Potala war nicht von dieser Welt.
Noch vor fünf Jahren hätte er Lhasa besuchen können und das Gebäude so gesehen wie vermutlich die meisten Touristen: als ein steinernes Schloß, dessen beeindruckende Wirkung nicht nur auf Größe und Alter beruhte, sondern vornehmlich auf der historischen Bedeutung als buddhistischer Vatikan. Doch Shan hatte den Potala nicht vor fünf Jahren gesehen, und inzwischen konnte er ihn nur noch mit den Augen derjenigen betrachten, welche die Wintergeschichten erzählten.
Ein alter Priester - derselbe, der im Vorjahr zum Sterben hinaus in den Schnee gegangen war - hatte den Potala zum erstenmal im Jahr 1931 besucht, noch während der Amtszeit des Dreizehnten Dalai Lama, und dann noch einmal zwei Jahre später, als der salzgetrocknete Körper des alten Herrschers in einem Chorten aus massivem Silber im Roten Palast des Potala beerdigt wurde. Es war dieser Dreizehnte gewesen, der auf seinem Totenbett davor gewarnt hatte, daß allen Tibeter eine baldige Versklavung und eine endlos lange Zeit des Leidens bevorstünde. Später war dem Priester das große Glück widerfahren, zum Dienst in der Bibliothek des Potala eingeteilt zu werden. Dort befanden sich auch die originalen Konstruktionspläne des Großen Fünften Dalai Lama, der 1645 mit dem Bau des Potala begonnen hatte und später darum bat, man möge seinen Tod geheimhalten, damit die Arbeiten dadurch nicht
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