Der fremde Tibeter
arme verlorene Seele findet schließlich ein Nest.«
»Tu nicht so, als wäre ich der einzige, dem es so geht«, schimpfte Kincaid, der aber nach wie vor grinste.
Shan sah, wie Fowler zunächst erstarrte und sich dann zögernd zu ihm umwandte, als würde sie ihm eine Erklärung schulden. »Meine Eltern sind seit fünfzehn Jahren geschieden. Ich habe bei meiner Mutter gelebt, die inzwischen an der Alzheimerschen Krankheit leidet. Sie verliert ihre Erinnerungen. Schon seit mehr als vier Jahren erkennt sie mich nicht mehr. Und von meinem Vater habe ich seit acht Jahren nichts mehr gesehen oder gehört.« Sie sah aus dem Fenster. »Ich schätze, ich habe auch eine neue Welt gebraucht.«
Das erklärte Shan gar nichts, sondern machte ihn nur traurig. Vielleicht war Lhadrung auf der geistigen Ebene ein weiterer dieser Sammelpunkte, an dem die verlorenen Seelen sich einfanden und kräftig in die Mangel genommen wurden, bis sie so abgeschliffen und hart wie alte Steine waren und wieder in der Welt bestehen konnten.
Shan schloß die Augen und konzentrierte sich auf die Einzelheiten, die er Oberst Tans Dienstakte entnommen hatte. Stationierungen in der Mandschurei, der inneren Mongolei und der Provinz Fujian, aber vor 1985 kein Aufenthalt in Tibet. Er starrte aus dem Fenster auf die einsame Landschaft. Alles war falsch. Alle seine Annahmen hatten sich als Irrtümer erwiesen. Er hatte gedacht, die Schlüsselperson wäre Direktor Hu, aber er hatte sich geirrt. Er hatte gedacht, es ginge um die Schädelhöhle, doch dann hatte er Yerpa gefunden. Er hatte gehofft, es würde sich lediglich um Streitigkeiten unter Plünderern handeln, aber ein Plünderer tötete nicht wegen eines Schreins, um dadurch einen anderen Schrein zu beschützen. Er hatte gedacht, vielleicht wäre nur Li darin verwickelt, dann Li und der Major, doch keiner der beiden hatte irgendeine Verbindung zu Tamdin. Er hatte geglaubt, Sungpo könnte niemals der Täter gewesen sein, aber wer außer einem Mönch hätte den Schädel in der Höhle so ehrfurchtsvoll umgebettet? Er hatte gedacht, das Lotusbuch würde die Antworten und die Motive liefern, aber das Lotusbuch erwies sich als unzuverlässig. Das alles waren Teile des Puzzles, doch die Größe und Form des Bildes entzogen sich bislang seinem Verständnis, und er hatte keine Ahnung, wie viele Teile er noch benötigte, bis die verschiedenen Informationen endlich einen Sinn ergeben würden.
Wer weiß, daß er nicht weiß, ist weise, hatte Tsomo ihn erinnert. Er mußte ganz von vorn beginnen, den Kopf freibekommen und so tun, als wüßte er nur, daß er nichts wußte. Und da war ziemlich viel, das er nicht wußte. Er wußte nicht, wer das Tamdin-Kostüm hatte. Er wußte nicht, wer den ragyapas die gestohlenen Armeevorräte gegeben hatte. Er wußte nicht, weshalb die purbas falsche Einträge im Lotusbuch festhalten sollten. Er wußte nicht, warum Jao sich für die Wasserrechte einer entlegenen Bergregion interessiert hatte. Er hatte den Eindruck, er wäre der Antwort seit dem Tag, an dem man Jaos Kopf gefunden hatte, kein Stück nähergekommen. Falls er jetzt in Lhasa zu keinen neuen Erkenntnissen gelangte, hätte er keine Hoffnung mehr, den wahren Mörder zu finden und Sungpo zu retten. Und wenn er sich dann weigerte, einen Bericht zu verfassen, in dem ein unschuldiger Mönch verurteilt wurde, bestand auch keine Hoffnung mehr, daß er sich selbst oder die 404te retten könnte.
Sie fuhren zu einem Lagerhaus am hinteren Ende des Flughafens, wo ein verschlafener Zollbeamter sie durchwinkte und zwei Frachtarbeiter darauf warteten, daß Fowler jedem von ihnen einen 10-Renminbi-Schein in die Hand drücken würde. Erst dann luden sie die Kisten aus und rollten einen Karren zum Wagen, auf dem sich ein Gestell mit leeren Kanistern befand. Keine fünfzehn Minuten später befanden Shan und die Amerikaner sich auf der Straße nach Lhasa.
Nach einer Stunde bot sich ihnen der vertraute Anblick der niedrigen schieferfarbenen Häuserblöcke, die Peking überall in China für die Stadtarbeiter errichten ließ. Die Wege neben der Straße füllten sich langsam mit Gestalten in graubrauner Kleidung. Hagere Ponys zogen Karren hinter sich her, auf denen in Plastikfässern die Fäkalien der Nacht aus der Stadt geschafft wurden. Bauern trugen große Netztaschen voller Kohlköpfe und Zwiebeln. Hühner und kleine Schweine hingen mit verschnürten Beinen kopfüber von Stangen herunter, die wiederum auf Fahrrädern balanciert wurden.
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