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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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unterbrochen würden. Der alte Yak hatte seinem ehrfürchtigen, zitternden Publikum bei der 404ten diese Pläne in allen Einzelheiten beschrieben. Reichverzierte Wände aus Stein, Zedern- und Teakholz, die ohne einen einzigen Nagel von Hand aneinandergefügt wurden, unterteilten dreizehn Etagen in mehr als tausend Räume, die einst die hundertfachen Schreine beherbergt hatten. Erst bei der dritten Wiederholung der Geschichte hatte Shan begriffen, daß diese Angabe nicht rein symbolisch gemeint war. Der Palast des Großen Fünften für Buddha enthielt hundert mal hundert Schreine, insgesamt also zehntausend Altäre, auf denen wiederum zweihunderttausend Statuen von Gottheiten standen. Als Shan zu den riesigen Mauern emporblickte, fiel ihm wieder ein, daß der Mönch ihnen erzählt hatte, sie seien für die Ewigkeit errichtet worden. Vielleicht hatte er recht - Shan hatte später erfahren, daß man die Außenmauern, die an einigen Stellen bis zu neun Meter dick waren, mit geschmolzenem Kupfer ausgegossen hatte, damit sie die Zeitalter überdauern würden.
    Sehr viel später, im tibetischen Jahr der Erdmaus, 1949, hatte Choje dieselbe Bibliothek besucht. Er hatte dort siebentausend Bände mit Schriften gesehen, die meisten davon unikale Manuskripte, die viele Jahrhunderte zurückreichten. Einige, so erklärte er mit fast kindlicher Ehrfurcht, waren auf Palmblätter geschrieben, die man tausend Jahre zuvor aus Indien mitgebracht hatte. Eine besondere Sammlung illustrierter Manuskripte, die Choje zehn Monate lang studieren durfte, umfaßte zweitausend Bände, deren Texte in verschiedenfarbigen Tinten niedergeschrieben waren, die man aus pulverisiertem Gold, Silber, Kupfer, Türkis, Korallen und Muschelschalen hergestellt hatte. Als die Roten Garden den Potala während der Kulturrevolution stürmten, hätte nichts die Vier Alten besser symbolisieren können als diese Manuskripte. Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung auf dem Tempelgelände hatte man die Bände zerstört. Viele wurden in kleine Stücke gerissen und zur weiteren Verwendung in die Latrinen der Roten Garden transportiert.
    Rebecca Fowlers Hand auf seinem Arm holte Shan in die Gegenwart zurück. »Tyler sollte gehen«, wiederholte sie.
    »Ist ein Kinderspiel«, pflichtete Kincaid ihr bei. Seine Augen funkelten übermütig. »Ich bin schon öfter im Landwirtschaftsministerium gewesen. Vermutlich werden die Leute dort mich wiedererkennen. Kotau vor dem großen amerikanischen Investor.«
    Shan nickte zögernd, stand dann auf und reichte Fowler die Leinentasche, die er mitgebracht hatte. »Geben Sie das Ihrem Freund Jansen.«
    »Was ist das?«
    »Aus der Höhle. Einer der goldenen Schädel. Ich habe darum gebeten, mir einen als Beweisstück zu überlassen.«
    Kincaid sah ihn unsicher an.
    »Ich habe nicht gesagt, wofür er als Beweis dienen soll«, fuhr Shan fort.
    Kincaid riß die Augen auf. »Was für ein Schlitzohr«, sagte er lachend. Er nahm die Tasche entgegen und schaute hinein.
    Shan zog einen Umschlag hervor. »Das sind die Lebensläufe von Direktor Hus geologischer Erkundungstruppe. Ich dachte, die könnten vielleicht von Interesse sein.«
    »Lebensläufe?« fragte Kincaid.
    »Hu hat acht Leute, deren Aufgabe dann besteht, neue Mineralvorkommen aufzuspüren. Sechs der Männer wurden auf Bitte Hus letztes Jahr von Wen Li an ihn überstellt.«
    »Aber Wen gehört zum Büro für Religiöse Angelegenheiten.«
    Shan nickte. »Die sechs haben keinerlei geologische Ausbildung. Es sind Archäologen und Anthropologen.«
    Kincaid starrte verwirrt den Umschlag an. Dann schien er zu verstehen. »Seine angeblichen Mineralvorkommen - es dreht sich alles nur um Plünderungen. Er ist gar nicht auf der Suche nach Minen«, rief er Fowler zu, »er sucht nach Höhlen! Schädelhöhlen. Warte nur ab, bis Jansen das zu sehen bekommt!« Mit breitem Grinsen packte er Shans Hand und schüttelte sie heftig. »Passen Sie auf sich auf, Mann«, sagte er unbeholfen. Er warf einen kurzen Blick auf Fowlers amüsiertes Gesicht und wandte sich dann wieder an Shan. »Wirklich. Ich meine es ernst.«
    Der Amerikaner hielt inne, griff mit feierlicher Geste in sein Hemd und zog ein weißes Stück Stoff hervor, das darunter verborgen gewesen war. Es war eine seidene khata, ein Gebetsschal. Der Amerikaner hatte sie um den Hals getragen. »Hier«, sagte Kincaid. »Das ist mein Glücksbringer. Er soll dafür sorgen, daß ich lebend von meinen Klettertouren zurückkomme.«
    »Ich kann nicht«,

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