Der fremde Tibeter
Mönch stand am Kopfende der Trage, die man auf einigen Strohballen abgestellt hatte. Die Ärmel seines Gewands waren mit Brokat besetzt. Es mußte sich um den Abt von Saskya handeln, erkannte Shan. Als Shan und Yeshe sich näherten, stellten zwei jüngere Priester sich ihnen in den Weg. Yeshe schob sich vor Shan, als wolle er ihn beschützen.
»Wir müssen mit ihm sprechen«, protestierte Shan.
Wortlos deuteten die Mönche auf einen freien Fleck neben einigen ihrer Glaubensbrüder, die vor der Lagerstelle saßen, Gebetsmühlen drehten und leise Mantras aufsagten.
»Nur eine Frage«, bat Yeshe. »Rinpoche hätte bestimmt nichts gegen eine einzige Frage einzuwenden.«
Der Priester warf ihm einen wütenden Blick zu. »Wo hast du deine Unterweisung erfahren?«
»Im Kloster Khartok. Ich kann alles erklären«, erwiderte Yeshe flehentlich. »Es geht um die Rettung von Sungpo. Vielleicht sogar um die Rettung der 404ten.«
Der Priester musterte Shan. »Die Bardo-Zeremonie hat bereits begonnen. Der Übergang findet bereits statt. Seine Seele hat sich schon gelöst. Es erfordert all seine Konzentration. Er kann jetzt in weiter Ferne ein winziges Licht sehen. Falls er abgelenkt wird und es auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen verliert, könnte er an einen Ort geschickt werden, der gar nicht beabsichtigt war. Womöglich würde er nie an sein Ziel gelangen und endlos durch die Leere treiben. Dieser Mönch aus Khartok weiß das sehr wohl«, sagte er mit einem verächtlichen Blick auf Yeshe.
Sie setzten sich und warteten. Yeshe fing an, seinen Rosenkranz zu beten, aber Shan sah, daß er sich bald schon verzählte und die Fäuste ballte. Man brachte Butterlampen und entzündete sie.
»Ihr versteht nicht!« rief Yeshe auf einmal. »Er könnte Sungpo retten! Wir können die 404te schützen!«
Der kenpo wandte sich in seine Richtung und bedachte ihn mit einem frostigen Blick. Einer der jüngeren Mönche kam wütend auf Yeshe zu, als wolle er ihn packen und festhalten, wurde jedoch von einem plötzlichen Tumult am Zelteingang unterbrochen. Man hörte leise, drängende Proteste. Die Zeltklappe wurde aufgeschlagen, und Dr. Sung trat ein. Ihr wütender Blick richtete sich auf Shan und ignorierte alle anderen. Dann trat sie an die Trage. Als sie ihre Tasche öffnete, stieß der Abt einen aufgeregten Schrei aus und packte ihren Arm.
Sie sagte nichts. Ihre Blicke trafen sich. Mit ihrer freien Hand zog sie ein Stethoskop aus der Tasche, legte es sich um den Hals und löste dann - einen Finger nach dem anderen - die Hand des Abtes von ihrem Arm. Er rührte sich nicht von der Stelle, aber er tat auch nichts, um sie von ihrer Untersuchung abzuhalten.
»Sein Herz schlägt so schwach, daß es nicht einmal ein Kind am Leben erhalten könnte«, sagte sie. »Ich vermute einen Gefäßverschluß.«
»Kann man das behandeln?« fragte Shan.
»Vielleicht. Aber nicht hier. Ich muß Tests im Krankenhaus durchführen.«
»Nur eine Frage«, drängte Yeshe und sah auf die Uhr. »Wir müssen es wissen. Er ist der einzige, der es uns sagen kann.«
Sung zuckte die Achseln und zog mit einer Spritze eine klare Flüssigkeit auf. »Das wird ihn aufwecken«, sagte sie. »Zumindest für kurze Zeit.« Sie desinfizierte eine Stelle an Jes Arm.
Als sie sich mit der Nadel vorbeugte, legte der Abt seine Hand auf die beabsichtigte Einstichstelle. xSie haben ja gar keine Vorstellung von dem, was Sie gerade anrichten«, sagte er.
»Er ist ein alter Mann, der Hilfe braucht«, flehte Yeshe. »Er muß hier nicht sterben. Falls er jetzt stirbt, könnte das auch Sungpos Tod bedeuten.«
»Sein ganzes Leben war diesem Moment des Übergangs gewidmet«, warnte der Abt. »Man darf ihn nicht aufhalten. Er hat die Reise bereits angetreten und befindet sich an einem Ort, an dem keiner von uns ihn stören darf.«
Dr. Sung sah den Priester an, als nähme sie ihn zum erstenmal richtig wahr. Dann ließ sie langsam die Spritze sinken und blickte zu Shan, der an ihre Seite trat. »Sie sind derjenige, der mich hierum gebeten hat«, sagte sie. Doch die Verwirrung, die in ihrer Stimme mitschwang, ließ es eher wie eine Frage als wie eine Anschuldigung klingen.
»Falls er heute stirbt, wird Sungpo morgen sterben«, sagte Yeshe bekümmert über Shans Schulter hinweg. »Alles wird umsonst gewesen sein. Falls wir die Antwort nicht jetzt erhalten, bekommen wir sie nie.«
Shan wies in Richtung des Eingangs. Die Ärztin legte ihre Instrumente am Rand der Trage ab
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