Der fremde Tibeter
gerichtet.«
»Feng?«
»All diese Jahre unter meinem Befehl, und jetzt bittet er um eine Versetzung. So weit wie möglich von einem Gefängnis entfernt. Er sagt, er will in Erfahrung bringen, ob noch jemand aus seiner Familie am Leben ist. Und er möchte zum Grab seines Vaters.« Tan wies ungelenk auf eine Papiertüte, die auf dem Tisch stand. »Hier. Madame Kos Idee«, sagte er. Er klang seltsam angespannt, gar nicht so fröhlich, wie Shan erwartet hatte.
In der Tüte befanden sich ein neues Paar Militärstiefel und Arbeitshandschuhe.
Shan sagte nichts, sondern setzte sich und fing an, seine Schuhe aufzuschnüren. »Was ist mit dem Amerikaner?«
Tan zögerte. »Der Amerikaner stellt kein Problem mehr da. Man hat sich bereits mit der amerikanischen Botschaft in Verbindung gesetzt.«
»Wurde er schon abgeschoben?«
Tan zündete sich eine Zigarette an. »Mr. Kincaid ist letzte Nacht auf die Klippe oberhalb der Schädelhöhle geklettert. Dann hat er sich ein Seil um den Hals gebunden und ist gesprungen. Die Arbeitsmannschaft hat ihn heute früh gefunden, wie er über der Höhle hing.«
Shan biß die Zähne zusammen. So viele Leben waren verschwendet worden. Weil Kincaid zu sehr gesucht hatte. »Und Fowler?«
»Sie kann bleiben, falls sie möchte. Es gibt eine Mine zu leiten.«
»Sie wird bleiben«, sagte Shan, streifte die Schuhe ab und band die Schnürsenkel zusammen, damit er sie besser tragen konnte. Madame Ko zuliebe würde er jetzt die Stiefel anziehen und sie später dann Choje geben.
Tan starrte unschlüssig auf einen gefalteten Zeitungsartikel, der auf seinem Tisch lag. Als Shan sich die Stiefel anzog, schob Tan ihm das Blatt zu.
Der Bericht war zehn Tage alt. Ein ganzseitiger Nachruf. Man trauerte um Minister Qin vom Wirtschaftsministerium, der unter allen aktiven Regierungsmitgliedern als einziger noch zu den Überlebenden der Achten Armee des Langen Marsches gehört hatte.
»Ich habe in Peking angerufen. Er hat dich betreffend keinerlei Anweisungen hinterlassen. In seinem Büro wurde bereits ein großer Hausputz durchgeführt. Anscheinend wollten ziemlich viele Leute, daß seine Unterlagen so schnell wie möglich vernichtet werden. Die Akten sind alle weg. Und von der neuen Belegschaft hat keiner je etwas von Befehlen hinsichtlich deiner Person gehört.«
Shan faltete das Blatt zusammen und steckte es ein. Das waren nicht unbedingt gute Neuigkeiten. Solange Qin am Leben gewesen war, hatte es wenigsten jemanden gegeben, der sich an ihn erinnerte und über seine Tätowierung entscheiden konnte. Er wäre nicht der erste, der in einem chinesischen Gefängnis vergessen wurde.
Tan schlug die schmale braune Mappe auf, die Shan bei seinem ersten Besuch gesehen hatte. »Das hier ist inzwischen der einzige offizielle Beleg für deine Existenz.« Tan klappte die Akte zu.
»Einen Fund hat man in Peking dennoch gemacht.« Tan hob ein Päckchen an, das in ein Wachstuch gewickelt war. »Es gab zwar keine Akte, aber das hier lag auf seinem Schreibtisch, wie eine Art Trophäe. Dein Name stand darauf. Ich dachte, du würdest...« Er verstummte und schlug die Verpackung auf. Auf dem Wachstuch lag ein kleiner, abgenutzter Bambusbehälter.
Shan starrte ihn ungläubig an. Langsam wanderte sein Blick von dem vertrauten Behältnis zu Tan, der ebenfalls den Gegenstand betrachtete. »Ich habe früher oft den taoistischen Priestern zugeschaut«, sagte Tan gedankenverloren. »Sie warfen die Stengel und rezitierten dann Verse vor Gruppen von Kindern.«
Shans Hand zitterte, als er danach griff und den Deckel öffnete. Die lackierten Stengel befanden sich noch immer darin, die alten Schafgarbenstengel, die seit seinem Urgroßvater weitervererbt worden waren und mit denen man das Taoteking befragte. Da dies der einzige materielle Besitz gewesen war, der Shan etwas bedeutete, hatte der Minister sehr viel Wert darauf gelegt, ihm die Stengel persönlich wegzunehmen. Shan mußte erst nachdenken, wie man die Geste vollführte, die einst wie ein Reflex für ihn gewesen war. Dann streute er die Stengel mit einer langsamen, fächerförmigen Bewegung aus. Peinlich berührt schaute er auf.
»Es weckt Erinnerungen«, sagte Tan in einem merkwürdigen, gequälten Tonfall. Er sah Shan an, und sein Gesicht verzog sich fragend. »Es gab einst eine bessere Zeit, nicht wahr?« fragte er mit plötzlicher Ergriffenheit.
Shan lächelte nur traurig. »Das hier ist ein Familienerbstück«, sagte er sehr leise. »Wie freundlich von Ihnen. Ich
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