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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Fernglas vom Fensterbrett und versuchte vergeblich, in der zunehmenden Dämmerung die Baustelle auf dem entfernten Hang auszumachen. Als er sich umdrehte, lag wieder die übliche Härte in seinem Blick. »Da hast du deinen Kontext. Wie hast du es genannt? Ein reaktionärer Ansatzpunkt.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Für mich riecht das nach Klassenkampf. Nach kapitalistischem Egoismus. Nach Kultanhängern, die ihren revisionistischen Freunden helfen wollen.«
    »Die 404te?« fragte Shan voller Entsetzen. »Die 404te hatte damit nichts zu tun.«
    »Aber du hast mich selbst davon überzeugt. Der Klassenkampf hat wieder einmal den sozialistischen Fortschritt behindert. Sie sind in den Streik getreten.«
    Bei diesen Worten zog Shans Herz sich zusammen. »Das ist kein Streik, sondern eine rein religiöse Angelegenheit.«
    Tan lächelte höhnisch. »Wenn Sträflinge die Arbeit verweigern, ist das ein Streik. Wir werden das Büro für Öffentliche Sicherheit davon in Kenntnis setzen müssen. Die Sache liegt nun nicht mehr in meinen Händen.«
    Shan starrte ihn hilflos an. Über einen Toten in den Bergen würde das Ministerium vielleicht hinwegsehen. Über einen Streik in einem Arbeitslager jedoch niemals. Plötzlich stand sehr viel mehr auf dem Spiel.
    »Du wirst eine neue Akte anlegen«, erklärte Tan. »Berichte über den Klassenkampf und darüber, wie die 404te diesen Tod herbeigeführt hat, um eine Ausrede für die Arbeitsverweigerung zu schaffen. Deine Ausführungen sollten eines Generalinspekteurs würdig sein, und das Ministerium sollte nicht den geringsten Zweifel an ihrer Wahrheit haben.« Er kritzelte etwas auf ein dickes braunes Blatt. Dann musterte er Shan einen Moment lang. Mit langsamer, förmlicher Geste brachte er sein Siegel auf dem Stück Papier an. »Du bist ab jetzt offiziell meinem Büro unterstellt. Ich gebe dir einen Wagen und den tibetischen Sekretär des Direktors. Feng wird euch im Auge behalten. Du hast die Erlaubnis, das Krankenhaus aufzusuchen, um dort Erkundigungen einzuziehen. Falls man dich fragt, bist du in vertraulicher Angelegenheit unterwegs.«
    Shan beugte sich vor und schaute verzweifelt in Richtung der Drachenklauen. »Mein Bericht wäre wertlos«, sagte er leise. Er hatte sich mit der Akte beeilt, um so schnell wie möglich zur 404ten zurückkehren und Choje helfen zu können. Jetzt wollte Tan ihn dazu benutzen, noch größeres Unheil auf die Mönche herabzubeschwören. »Ich habe mich als unzuverlässig erwiesen.«
    »Wir werden den Bericht unter meinem Namen einreichen.«
    Shan starrte einen undeutlichen, vage vertrauten Geist an sein eigenes Abbild, das sich im Fenster spiegelte. Es geschah tatsächlich. Er wurde als niedere Lebensform wiedergeboren. »Dann wird einer unserer Namen entehrt werden«, flüsterte er krächzend.

Kapitel 3
    Das gelbgraue dreigeschossige Gebäude, in dem das Gesundheitskollektiv des Volkes untergebracht war, wirkte von außen weitaus steriler als von innen. In der Eingangshalle roch es nach Schimmel. Das Gemälde auf einer der Wände, das strahlende Proletarier auf Bulldozern und Traktoren zeigte, war rissig und blätterte ab. Auf dem Mobiliar lag der gleiche trockene Staub, der auch in den Baracken der 404ten vorherrschte. Der verblichene Linoleumboden und eine Wand waren von braunen und grünen Flecken übersät. Das einzige Lebewesen, das sie bei ihrem Eintreten bemerkten, war ein großer Käfer, der hastig in den Schatten huschte.
    Madame Ko hatte angerufen. Ein kleiner, nervöser Mann in einem schäbigen Kittel erschien und führte Shan, Yeshe und Feng schweigend über eine schwach beleuchtete Treppe in einen Kellerraum hinunter, in dem sich fünf metallene Obduktionstische befanden. Als er die Schwingtüren aufstieß, brach der Ammoniak- und Formaldehydgestank wie eine Woge über ihren Köpfen zusammen. Der Geruch des Todes.
    Yeshe hielt sich blitzartig die Hand vor den Mund. Sergeant Feng fluchte und suchte nach einer Zigarette. Die Wände waren mit den gleichen dunklen Flecken gesprenkelt, die Shan bereits im Erdgeschoß bemerkt hatte. Er folgte einer der Tropfspuren mit den Augen, einer Reihe brauner Spritzer, die vom Boden bis zur Decke verlief. An einer der Wände hing ein Plakat, das vom häufigen Falten ziemlich brüchig geworden war, und warb für eine Aufführung der Pekinger Oper. Das Datum lag bereits mehrere Jahre zurück. Mit einer Mischung aus Ekel und Angst wies ihr Begleiter auf den einzigen belegten Tisch. Dann verließ er den

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