Der fremde Tibeter
Morduntersuchung nach sich zu ziehen. Nach dieser Unterschrift mußte er eine Möglichkeit finden, daß die Todesriten für die verlorene Seele abgehalten werden konnten. Als Reaktion auf das politische Dilemma würde man die 404te für fahrlässiges Verhalten maßregeln können. Ein Monat ohne warme Verpflegung und vielleicht eine Herabsetzung aller Gefangenen. Bald würde Sommer sein; sogar die Alten konnten eine Herabsetzung überleben. Das war zwar keine perfekte Lösung, aber sie lag für ihn immerhin in Reichweite.
Während die Männer ihre Masken festbanden, zog die Ärztin das Tuch von der Leiche und nahm ein Klemmbrett vom Tisch.
»Der Tod ist fünfzehn bis zwanzig Stunden vor der Auffindung eingetreten, also am Abend zuvor«, las sie. »Todesursache: die gleichzeitige traumatische Durchtrennung von Halsschlagader, Drosselvene und Rückenmark. Zwischen dem obersten Halswirbel und dem Hinterhauptsbein.« Bei diesen Worten ließ sie ihren Blick über die drei Männer schweifen. Yeshe fiel als erster durch ihr Raster, denn er war unverkennbar tibetischer Abstammung. Dann musterte sie kurz Shans abgetragene Kleidung und entschied sich schließlich, Sergeant Feng anzusprechen.
»Ich dachte, man hätte ihn enthauptet«, wandte Yeshe zögernd ein und schaute kurz zu Shan herüber.
»Das habe ich doch gesagt«, herrschte die Frau ihn an.
»Der Todeszeitpunkt läßt sich nicht genauer feststellen?« fragte Shan.
»Die Leichenstarre war noch nicht abgeklungen«, sagte sie, wieder zu Feng. »Ich kann Ihnen garantieren, daß es der vorige Abend war. Aber darüber hinaus...« Sie zuckte die Achseln. »Die Luft ist so trocken. Und kalt. Der Körper war abgedeckt. Für eine genauere Angabe wäre eine ganze Anzahl von Tests erforderlich.«
Sie bemerkte Shans Gesichtsausdruck und warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Das hier ist nicht unbedingt die Universität von Peking, Genosse.«
Shan schaute abermals zu dem Poster. »An der Bei Da hätte Ihnen ein Chromatograph zur Verfügung gestanden«, sagte er und benutzte die umgangssprachliche Bezeichnung der Pekinger Universität, wie sie hauptsächlich in Peking selbst gebräuchlich war.
Sie drehte sich langsam zu ihm. »Sie stammen aus der Hauptstadt?« Ihre Stimme hatte einen neuen Tonfall angenommen, der vorsichtigen Respekt erkennen ließ. In ihrem Land kam die Macht in vielerlei Formen daher. Man konnte gar nicht vorsichtig genug sein. Vielleicht würde das hier einfacher werden, als Shan gedacht hatte. Laß den Ermittler nur ganz kurz auferstehen, gerade lange genug, daß sie die Wichtigkeit des Unfallberichts verstehen wird.
»Mir wurde die Ehre zuteil, gemeinsam mit einem Professor der Gerichtsmedizin an der Bei Da einen Kurs zu geben«, sagte er. »Es war wirklich nur ein zweiwöchiges Seminar.
Ermittlungstechniken in der sozialistischen Gesellschaft.«
»Dann haben Sie es ja inzwischen weit gebracht.« Sie schien nicht in der Lage zu sein, ihren sarkastischen Anwandlungen zu widerstehen.
»Jemand war der Meinung, meine Technik sei zu sehr auf die Ermittlung und zu wenig auf den Sozialismus ausgerichtet.« Er sagte es mit einem Anflug von Reue, ganz wie man es ihm in den tamzing-Sitzungen beigebracht hatte.
»Und jetzt sind Sie hier«, stellte sie fest.
»Genau wie Sie«, erwiderte er.
Sie lächelte, als hätte er soeben eine besonders geistreiche Bemerkung gemacht. Einen kurzen Moment lang verschwanden die dunklen Augenringe. Shan erkannte, daß sich unter dem weiten Gewand ein schlanker Körper verbarg. Ohne die Spuren der Erschöpfung im Gesicht und ohne die streng im Nacken verknotete Frisur hätte man Dr. Sung problemlos für die adrette Ärztin eines Pekinger Krankenhauses halten können.
Schweigend umrundete sie einmal vollständig den Tisch und musterte erst Sergeant Feng und dann wieder Shan. Langsam kam sie auf Shan zu und packte plötzlich seinen Arm, als könnte er eventuell einen Fluchtversuch unternehmen. Er sträubte sich nicht, als sie seinen Ärmel hochschob und die eintätowierte Nummer auf seinem Unterarm betrachtete.
»Ein Kalfaktor?« fragte sie. »Wir haben hier einen Kalfaktor, der die Toiletten reinigt. Und ein anderer wischt das Blut auf. Aber bislang wurde noch keiner hergeschickt, um mich zu vernehmen.« Sie umkreiste ihn mit äußerster Neugier, als würde sie in Betracht ziehen, diesen seltsamen Organismus zu sezieren, der so unvermittelt vor ihr aufgetaucht war.
Sergeant Feng durchbrach die Stille mit einem gellenden
Weitere Kostenlose Bücher