Der fremde Tibeter
hier, kannte aber einen der Ortsansässigen. Eine alte Fehde, die durch einen unerwarteten Besucher wieder aufflammt. Eine Verschwörung, die aufgedeckt wird. Plötzlich bietet sich die Gelegenheit, eine alte Rechnung zu begleichen. Haben Sie versucht, ihn zu erreichen?«
»Wen?«
»Den Ankläger. Eine der beunruhigenden Fragen, die ich nicht aufgeschrieben habe, lautet: Warum hat der Mörder gewartet, bis der Ankläger die Stadt verlassen hatte? Wieso ist das alles genau jetzt passiert?«
»Ich habe es dir bereits gesagt. Ich will darüber nicht am Telefon reden.«
»Was ist, falls noch etwas für die Zeit von Jaos Abwesenheit geplant wurde? Vor dem Eintreffen der Kontrollgruppe.«
Tan schenkte ihm inzwischen ungeteilte Aufmerksamkeit. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob er schon in Dalian eingetroffen ist.« Tan musterte die Glut seiner Zigarette. »Was sollte ich ihn deiner Meinung nach fragen?«
»Fragen Sie ihn nach schwebenden Verfahren. Hat er vielleicht Druck auf jemanden ausgeübt?«
»Ich verstehe nicht... «
»Ankläger schauen gern unter große Steine. Manchmal scheuchen sie ein Schlangennest auf.«
Tan blies eine Rauchwolke zur Decke. »Denkst du an eine besondere Schlangenart?«
»Potentielle Informanten werden ermordet. Komplizen verlieren das Vertrauen. Fragen Sie ihn, ob er an einem Bestechungsfall gearbeitet hat.«
Dieser Vorschlag gab Tan zu denken. Er drückte seine Zigarette aus und ging zum Fenster. Nachdem er eine Weile in die Landschaft geblickt hatte, hob er geistesabwesend ein Fernglas vor die Augen und richtete es auf den östlichen Horizont. »Wenn die Sonne an einem klaren Tag richtig steht, kann man die neue Brücke am Fuß des Drachenschlunds sehen. Weißt du, wer die gebaut hat? Wir waren das. Meine Ingenieure, ohne jede Hilfe aus Lhasa.«
Shan erwiderte nichts.
Tan setzte das Fernglas ab und zündete sich eine weitere Zigarette an. »Wieso Korruption?« fragte er und schaute weiterhin aus dem Fenster. Korruption war schon immer ein weitaus bedeutenderes Verbrechen als Mord gewesen. Zur Zeit der Dynastien wurden Morde manchmal lediglich mit Geldstrafen belegt. Wer jedoch den Kaiser bestahl, wurde stets in tausend Stücke gerissen.
»Der Tote war gutgekleidet«, erklärte Shan. »Er trug mehr Geld bei sich, als die meisten Tibeter in einem ganzen Jahr verdienen. Es gibt in Peking entsprechende Statistiken mit Querverweisen zwischen den Fällen. Natürlich alles geheime Verschlußsachen. Morden liegt typischerweise eine von zwei bestimmten Triebkräften zugrunde. Leidenschaft oder Politik.«
»Politik?«
»Pekings Wort für Korruption, denn Korruption hängt immer mit einem gewissen Machtstreben zusammen. Fragen Sie Ihren Ankläger, wenn Sie ihn erreichen können. Er wird es verstehen. Und bitten Sie ihn vorerst um eine Empfehlung.«
»Empfehlung?«
»Zur Auswahl eines echten Ermittlers, der gleich mit der Arbeit anfängt. Ich kann alles in die richtige Form bringen, aber die wahre Untersuchung muß beginnen, solange die Spuren noch frisch sind.«
Tan inhalierte und behielt den Rauch eine Zeitlang in der Lunge, bevor er wieder das Wort ergriff. »Langsam verstehe ich dich«, sagte er und ließ den Rauch hervorströmen. »Du löst Probleme, indem du größere erschaffst. Ich wette, das ist ein wesentlicher Grund dafür, warum du in Tibet bist.«
Shan antwortete nicht.
»Der Kopf ist über die Klippe gerollt. Wir werden ihn finden. Ich schicke morgen Suchtrupps los. Sobald wir ihn gefunden haben, werde ich Sung davon überzeugen, den Bericht zu unterschreiben.«
Shan starrte den Oberst weiterhin schweigend an.
»Du sagst, falls der Kopf nicht gefunden wird, erwartet das Ministerium von mir, daß ich ihnen einen Mörder präsentiere.«
»Natürlich«, stimmte Shan ihm zu. »Aber das wird nicht deren vordringliches Anliegen sein. Zunächst mal müssen Sie den gesellschaftsfeindlichen Akt präsentieren. Es hegt in Ihrer Verantwortung, ausführlich den sozialistischen Kontext zu schildern. Liefern Sie einen Kontext, und der Rest ergibt sich fast von allein.«
»Kontext?«
»Der eigentliche Mörder wird dem Ministerium relativ gleichgültig sein. Bei Bedarf finden sich immer genügend Verdächtige.« Shan wartete auf eine Reaktion. Tan zuckte mit keiner Wimper. »Was aber stets gesucht wird«, fuhr er fort, »ist die politische Erklärung. Eine Morduntersuchung ist eine Kunst für sich. Die wesentliche Ursache für Gewaltverbrechen ist der
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