Der fremde Tibeter
gewundert, wer wohl so mutig gewesen ist, dem Oberst die Petition zur Freilassung Lokeshs zu überreichen«, sagte Shan. »Ich glaube, inzwischen weiß ich, wer es war. Sie hätten ihn gemocht. Er hat wunderschöne Lieder aus dem alten Tibet gesungen.«
»Ich bin altmodisch. Da, wo ich herkomme, wurde uns beigebracht, die Alten zu ehren, und nicht, sie ins Gefängnis zu stecken.«
Auf welchem fernen Planeten war das denn, hätte Shan beinahe gefragt, aber dann bemerkte er, wie sie unschlüssig in ihre Teetasse starrte, und erkannte, daß sie ihm etwas sagen wollte.
»Ich habe einen Bruder«, gestand sie plötzlich. »Er ist nicht viel älter als Sie. Ein Lehrer. Vor fünfzehn Jahren wurde er verhaftet, weil er etwas Schlimmes geschrieben hatte, und in ein Lager in der Nähe der Mongolei geschickt. Niemand spricht über ihn, aber ich muß oft an ihn denken.« Sie blickte auf. Ihre Miene war unschuldig und neugierig. »Sie müssen doch nicht leiden, oder? In den Lagern, meine ich. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er leiden müßte.«
Shan trank einen großen Schluck Tee und zwang sich zu einem Lächeln. »Wir bauen einfach nur Straßen.«
Madame Ko nickte ernst.
Im nächsten Moment ertönte ein Summer, und Madame Ko wies auf die Tür des Obersts. Li platzte aus dem Konferenzraum und starrte Shan unsicher an. Als Shan von Madame Ko in Tans Büro gedrängt wurde, hörte er Li ungläubig rufen: »Sie sind das!« Dann schloß sie die Tür.
Tan stand mit dem Rücken zu Shan am Fenster. Die Vorhänge waren vollständig aufgezogen, und in dem hellen Licht konnte Shan die hintere Wand zum erstenmal deutlich erkennen. Er sah das verblichene Foto eines Mädchens und eines weitaus jüngeren Tans neben einem Kampfpanzer. Links davon hing eine Landkarte, über der in großen Buchstaben nei lou stand, was sie als geheime Verschlußsache einstufte. Sie zeigte die tibetischen Grenzregionen. Über der Karte hing ein antikes Schwert, ein zhan dao, die robuste Zweihandklinge, die in früheren Jahrhunderten bevorzugt von Scharfrichtern eingesetzt wurde.
»Unser Mann wurde heute morgen aufgegriffen«, sagte Tan, ohne sich umzudrehen.
Li hatte eine Festnahme erwähnt.
»In den Bergen, wo sie sich normalerweise verstecken. Wir hatten Glück. Der Narr trug noch immer Jaos Brieftasche bei sich.« Tan ging zu seinem Schreibtisch. »Bei der Öffentlichen Sicherheit ist er aktenkundig.« Er warf Shan einen ungehaltenen Blick zu. »Setz dich, verdammt. Wir haben viel zu erledigen.«
»Der stellvertretende Ankläger ist bereits da. Ich vermute, ich werde meine Arbeit an ihn übergeben.«
Tan blickte auf. »Li? Du hast Li Aidang getroffen?«
»Sie haben nie erwähnt, daß es einen stellvertretenden Ankläger gibt.«
»Es war nicht von Bedeutung. Li ist unfähig, er muß noch viel lernen. Jao hat die ganze Arbeit erledigt. Li liest Bücher und besucht Versammlungen. Er ist ein Politoffizier.« Tan stieß eine Mappe von sich, die mit den roten Streifen des Büros für Öffentliche Sicherheit versehen war. »Der Mörder ist seit seiner Jugend ein kultureller Unruhestifter. 1989 die Aufstände in Lhasa. Weißt du über diesen Aufruhr Bescheid?«
Offiziell hatte dieser Aufstand, der begann, als Mönche den Tokhang Tempel in Lhasa besetzten, nie stattgefunden. Offiziell wußte niemand, wie viele Mönche gestorben waren, als die Kriecher mit Maschinengewehren das Feuer eröffneten. In einem Land, in dem Himmelsbegräbnisse praktiziert wurden, konnte man die Überreste der Toten leicht verschwinden lassen.
»Einige Jahre später hat es auch hier einen Zwischenfall gegeben«, fuhr Tan fort. »Auf dem Marktplatz.«
»Ich habe davon gehört. Mehrere Priester wurden verstümmelt. Die hiesige Bevölkerung nennt sie die DaumenAufstände.«
Tan ging nicht darauf ein. Traf es wirklich zu, fragte Shan sich, daß Tan derjenige gewesen war, der die Amputation der Daumen angeordnet hatte?
»Er war dabei. Die meisten Beteiligten erhielten drei Jahre Zwangsarbeit. Er bekam sechs Jahre, weil er einer der fünf Rädelsführer des Aufruhrs war. Jao hat ihn angeklagt. Die Fünf von Lhadrung wurden sie von den Leuten genannt.« Tan schüttelte angewidert den Kopf. »Meine Befürchtung wird immer wieder bestätigt; wir sind beim ersten Mal viel zu nachsichtig mit ihnen verfahren. Und jetzt haben wir Jao an einen von ihnen verloren... «
»Ich könnte eine Liste der Zeugen anfertigen, deren Aussagen das Gericht benötigen wird«, sagte Shan ausdruckslos.
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