Der fremde Tibeter
mächtig.« Trinle faßte die unteren Ecken an. »Hier«, erklärte er, »du mußt es falten und eine kleine Rolle daraus fertigen. Trag es um deinen Hals. Wir würden eigentlich ein Amulett an einer Kette dafür brauchen, aber es gibt hier nichts dergleichen.«
»Sind alle hier damit beschäftigt, Schutzzauber zu verfassen?«
»Nicht so wie dieser. Nicht so mächtig. Wir hatten nur dieses eine Fragment. Auch die Symbole konnten wir nur ein einziges Mal anrufen. Dies sind keine Worte der Hände oder Lippen. Sie werden niemals ausgesprochen. Rinpoche mußte nach ihnen greifen und sie einfangen. Es dauert mehrere Stunden, diesen Talisman mit Macht zu erfüllen. Er hat den ganzen Tag daran gearbeitet. Es hat ihn sehr erschöpft. Tamdin wird diese Formel erkennen, denn sie kann aus der Welt dieses Dämons wahrgenommen werden, also weiß er, daß du kommst. Es sit nicht nur ein Schutz. Es ist eher wie eine Empfehlung, damit du mit ihm in Verbindung treten kannst. Choje sagt, du wandelst auf den Pfaden der Schutzdämonen.«
Shan war versucht zu fragen, ob das bedeuten sollte, daß die Dämonen ihn ansonsten angreifen würden, aber dann kam ihm eine andere Frage in den Sinn. Wie war Choje an das Fragment eines alten Manuskripts gelangt?
Einige der Mönche legten ihre Zauberformeln auf den Altar und schauten Choje erwartungsvoll an. Andere trugen ihre Schriften zu einem Bett im hinteren Teil der Hütte. Shan schloß sich ihnen an. Auf dem Bett saß einer der alten Mönche und hatte vor sich ein seltsames Flickwerk aus Bannformeln liegen. Er bildete aus den Etiketten einen größeren Zauberspruch und verband sie geschickt mit dünn geflochtenem menschlichen Haar.
Shan bemerkte, daß Trinle auf den dicken Notizblock in seiner Tasche starrte. Er riß ein Dutzend leerer Blätter ab und reichte sie Trinle zusammen mit seinem Bleistift.
»Was bedeuten die anderen Zauberformeln?«
»Jeder von uns bemüht sich nach Kräften. Manche versuchen, Bardo-Riten für den jungpo vorzubereiten. Andere sind lediglich Schutzzauber. Ich weiß nicht, ob Rinpoche sie segnen wird. Ohne den Segen eines der Mächtigen werden sie nutzlos sein.«
»Er wird die Schutzzauber nicht segnen? Er will nicht, daß sie vor dem jungpo geschützt werden?«
»Nicht vor dem jungpo. Diese hier sind gegen die bösen Mächte dieser Welt gerichtet. Tsonsung-Zauber. Zum Schutz vor Schlagstöcken. Vor Bajonetten. Vor Kugeln.«
Kapitel 5
Am nächsten Morgen wartete vor Tans Büro ein eleganter junger Mann mit weißem Hemd und blauem Anzug. Er ging vor dem Fenster auf und ab, blieb stehen, um Sergeant Feng verächtlich zu mustern, bemerkte dann Shan und nickte ihm wissend zu, als würden sie ein Geheimnis miteinander teilen.
Shan trat ans Fenster und versuchte verzweifelt, irgendwelche Aktivitäten auf den Hängen der Südklaue auszumachen. Der Fremde glaubte irrtümlich, Shan wolle ein Gespräch mit ihm anfangen.
»Drei von fünf«, sagte der Mann. »Sechzig Prozent beantragen, vor Ablauf ihrer Zeit nach Hause geschickt zu werden. Haben Sie das gewußt, Genosse?« Das Wort Peking stand ihm unsichtbar auf die Stirn tätowiert.
»Die meisten, die ich kenne, bleiben bis zum letzten Tag dabei«, sagte Shan leise. Er beugte sich vor, so daß sein Gesicht die Scheibe berührte. Die 404te müßte inzwischen den Hang erreicht haben. Würde der Direktor sich heute überhaupt die Mühe machen, sie nach draußen zu schaffen?
»Sie ertragen die Kälte nicht«, fuhr der Mann fort und ließ nicht erkennen, ob er Shan gehört hatte. »Sie ertragen die Luft nicht. Sie ertragen die Trockenheit nicht. Sie ertragen den Staub nicht. Sie ertragen die Blicke auf der Straße nicht. Sie ertragen die zweibeinigen Heuschrecken nicht.«
Als Madame Ko in den Warteraum trat, eilte der Fremde sofort auf sie zu. »Es gibt nichts, das wichtiger wäre!« versicherte er ihr langsam und laut, als wäre sie irgendwie behindert. »Ich muß ihn sofort sprechen!« Sie lächelte ihn kühl an und wies auf die Stühle, die entlang der Wand standen.
Doch der Mann ging weiterhin auf und ab und schaute immer wieder kurz zu Tans Tür. »Ich bin seit zwei Jahren hier. Es gefällt mir sehr gut. Von mir aus können es zehn werden. Wie steht's mit Ihnen?«
Shan blickte langsam auf und hoffte, daß die Frage nicht an ihn gerichtet war. Doch die Augen des Mannes waren wie zwei Gewehrläufe und zielten direkt auf sein Gesicht. »Drei bisher.«
»Das ist ein Mann nach meinem Geschmack!« rief der Fremde.
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