Der fremde Tibeter
»Es gefällt mir überaus gut hier«, wiederholte er. »Es ist die Herausforderung meines Lebens. An jeder Kreuzung lauern neue günstige Gelegenheiten«, sagte er und wartete, daß Shan ihm beipflichten würde.
»Zumindest Überraschungen. An jeder Kreuzung lauern neue Überraschungen«, erwiderte Shan wohlüberlegt.
Der Mann lachte kurz und verhalten und nahm dann auf dem Stuhl neben Shan Platz. Shan legte beide Hände schützend auf seine Akte.
»Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen. Sind Sie bei einer Einheit in den Bergen?«
»In den Bergen«, murmelte Shan. Das äußere Zimmer war nicht beheizt, und so trug er noch immer den unauffälligen grauen Mantel, den Feng an jenem Morgen für ihn aus dem Laderaum des Wagens hervorgezogen hatte.
»Der Alte hat zu viele Verpflichtungen«, teilte der Mann ihm vertraulich mit und nickte in Richtung von Tans Tür. »Berichte für die Partei. Berichte für die Armee. Berichte für die Öffentliche Sicherheit. Berichte über den Stand der Berichte. Wir lassen der Bürokratie nicht soviel Spielraum. Sonst bekommt man ja gar nichts mehr geregelt.«
Fengs Kopf sackte nach hinten. Er fing an zu schnarchen.
»Wir?« hakte Shan nach.
Mit theatralischer Geste öffnete der Fremde eine kleines Plastiketui und reichte Shan eine geprägte Visitenkarte.
Shan musterte die Karte sorgfältig. Sie war aus papierdünnem Kunststoff gefertigt. Li Aidang stand darauf. Eine Generation zuvor war dies einer der Lieblingsnamen ehrgeiziger Eltern gewesen. Li, der die Partei liebt. Als Shan die Berufsbezeichnung las, erstarrte er vor Schreck. Stellvertretender Ankläger. Tan hatte es also getan, dachte er, er hatte einen Ermittler von außerhalb hinzugezogen. Dann fiel Shans Blick auf die Adresse. Bezirk Lhadrung.
Er strich ungläubig mit dem Finger über die Worte. »Sie sind sehr jung für einen so verantwortungsvollen Posten«, sagte er schließlich und sah Li an. Der stellvertretende Ankläger war höchstens Anfang Dreißig. Er trug eine teure Armbanduhr und kurioserweise seltsame westliche Sportschuhe. »Und ziemlich weit weg von zu Hause.«
»Peking fehlt mir gar nicht. Zu viele Leute und zu wenige günstige Gelegenheiten.«
Da war dieses Wort wieder. Es wirkte merkwürdig, einen stellvertretenden Ankläger von günstigen Gelegenheiten sprechen zu hören.
Madame Ko kam zurück.
»Offenbar versteht er nicht...«, setzte Li herablassend an. »Es geht um die Festnahme. Er muß die Ermächtigungen unterzeichnen, und außerdem wird er wollen, daß...«
Madame Ko verließ das Zimmer, ohne Li zu beachten. Während er ihr hinterherstarrte, erschien ein höhnisches Grinsen auf seinem Gesicht, als hätte er sich soeben etwas besonders Vergnügliches vorgenommen. Er beugte sich vor und betrachtete Fengs zusammengesackte Gestalt. »Falls das hier mein Büro wäre, würden die Leute sich etwas respektvoller benehmen«, sagte er voller Geringschätzung. Dann tauchte Madame Ko wieder auf, öffnete die Tür zum benachbarten Konferenzraum und bedeutete Li mit einem Nicken, er möge eintreten.
Mit einem leisen verächtlichen Schnauben schritt Li erhobenen Hauptes ins Nebenzimmer. Madame Ko rückte schweigend einen Stuhl für ihn vom Tisch ab, kehrte dann in den Warteraum zurück und schloß die Tür hinter sich. Li starrte ungeduldig auf die Seitentür, die zu Tans Büro führte.
»Ich frage mich«, sagte Shan, »ob der Oberst überhaupt beabsichtigt, diesen Raum zu betreten.« Er war sich nicht sicher, ob Madame Ko ihn gehört hatte, denn sie trat in eine Nische, aber sie reagierte mit einem belustigten Nicken, als sie mit zwei Tassen Tee zurückkehrte. Sie reichte Shan eine der Tassen und setzte sich neben ihn.
»Er ist ein ungehobelter junger Mann. Heutzutage gibt es so viele davon, die alles andere als wohlerzogen sind.«
Shan hätte beinahe gelacht. Vermutlich wäre sein Vater der gleichen Meinung gewesen, und zwar hinsichtlich aller Generationen, die seit der Mitte des Jahrhunderts in China aufgewachsen waren. Alles andere als wohlerzogen. »Ich möchte nicht, daß er wütend auf Sie ist«, sagte Shan.
Madame Ko bedeutete ihm, er möge seinen Tee trinken. Sie wirkte wie eine ältere Tante, die einen Jungen für die Schule fertigmachte. »Ich arbeite jetzt seit neunzehn Jahren für Oberst Tan.«
Shan lächelte unbeholfen. Sein Blick wanderte zu dem Spitzendeckchen, das auf dem Tisch lag. Es war lange her, daß er mit einer richtigen Dame Tee getrunken hatte. »Zuerst habe ich mich
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