Der fremde Tibeter
wiederholte.
»Was tun sie dir an?«
Er wußte, daß Choje keine Antwort erwartete. Shan sollte sich lediglich mit dieser Frage auseinandersetzen. Sobald die Kriecher das Kommando übernommen hatten, würde die 404te nie wieder so sein wie früher. Plötzlich verspürte Shan einen Stich im Herzen, als er begriff, daß man ihnen Choje vermutlich nehmen würde. Er starrte auf ein neues mudra, das die Hände des Lama formten. Es war das Zeichen des Mandalas, des Lebenskreises.
»Rinpoche. Dieser Dämon namens Tamdin... «
»Herrlich, nicht wahr?«
»Herrlich?«
»Daß der Beschützer ausgerechnet jetzt erscheint.«
Shan runzelte verwirrt die Stirn.
»Nichts im Leben geschieht zufällig«, erklärte Choje.
Stimmt, dachte Shan verdrießlich. Jao wurde aus einem bestimmten Grund umgebracht. Der Mörder wollte aus einem bestimmten Grund, daß es wie die Tat eines buddhistischen Dämons aussah. Die Kriecher waren aus einem bestimmten Grund hier und gewillt, die 404te zugrunde zu richten. Aber Shan kannte keinen dieser Gründe. »Rinpoche, wie würde ich Tamdin erkennen, falls er mir begegnet?«
»Er tritt in vielen Gestalten und Größen auf«, erwiderte Choje. »In Nepal und im Süden kennt man ihn als Hayagriva. In den älteren Klöstern nennen sie ihn den Roten Tigerteufel. Oder den pferdeköpfigen Dämon. Er trägt eine Kette aus Schädeln um den Hals und hat gelbes Haar. Seine Haut ist rot. Vier Fangzähne ragen aus seinem Maul. Sein Kopf ist riesig. Darüber befindet sich ein zweiter, sehr viel kleinerer Kopf - der Kopf eines Pferdes, der manchmal grün gefärbt ist. Er ist fett vom Gewicht der Welt, und sein Bauch hängt nach unten. Ich habe ihn vor vielen Jahren bei den Festtagstänzen gesehen.« Choje faltete die Hände, und das mudra verschwand. »Aber Tamdin kann nur dann gefunden werden, wenn er selbst es wünscht. Niemand, der nicht dazu ermächtigt ist, vermag ihn zu kontrollieren.«
Shan dachte schweigend nach. »Trägt er Waffen?«
»Falls er eine benötigt, wird sie sich in seiner Hand befinden«, entgegnete Choje rätselhaft. »Sprich mit einem Angehörigen der Schwarzhutsekte. Früher gab es einen alten ngagspa der Schwarzhüte in der Stadt. Ein Zauberer mit Namen Khorda. Er hat die alten Riten praktiziert und die jungen Mönche mit seinen Hexereien eingeschüchtert. Unterwiesen wurde er in einem gompa der Nyingmapa.«
Zu den Schwarzhüten gehörten die traditionellsten der tibetischen Buddhisten-Sekten. Unter diesen wiederum stellten die Nyingmapa die älteste Linie dar, die noch am engsten mit den Schamanen verbunden war, von denen Tibet einst regiert wurde.
»Er kann eigentlich nicht mehr am Leben sein«, sagte Choje, »denn er war bereits alt, als ich noch ein Junge war. Aber er hatte Lehrlinge. Frag danach, wer Schwarzhut-Zauber wirken kann und wer bei Khorda gelernt hat.«
Choje sah Shan prüfend an, so wie ein Vater vielleicht einen Sohn mustern würde, der sich anschickte, eine lange und gefährliche Reise anzutreten. Er winkte ihn zu sich heran. »Komm näher.«
Als Shan der Aufforderung folgte, legte Choje ihm eine Hand auf den Hinterkopf und drückte ihn nach unten. Er flüsterte Trinle etwas zu, woraufhin dieser ihm eine rostige Schere reichte. Dann schnitt Choje eine Locke von Shans kurzem Haar direkt oberhalb des Nackens ab. Das war normalerweise bei Initiationsriten üblich, wenn Studenten zu einem Kloster zugelassen wurden. Es sollte sie daran erinnern, wie viele Opfer Buddha gebracht hatte, um Rechtschaffenheit zu erlangen.
Shans Herzschlag beschleunigte sich aus unerklärlichen Gründen. »Ich bin dessen nicht würdig«, sagte er, als er aufblickte.
»Natürlich bist du das. Du bist ein Teil von uns.«
Eine tiefe Traurigkeit wallte in ihm auf. »Was geht hier vor, Rinpoche?«
Aber Choje seufzte nur und sah auf einmal furchtbar müde aus. Der alte Lama stand auf und ging zu seinem Bett. Unterdessen nahm Trinle ein fleckiges Stück Papier, auf das man ein Ideogramm geschrieben hatte, und reichte es Shan. »Das ist für dich«, sagte Trinle.
Fragend musterte Shan das Blatt. Die Schriftzeichen waren nach alter Art verfaßt, wie die Inschrift auf dem Medaillon. Das Bild zeigte mehrere konzentrische Kreise, in deren Mitte sich eine Lotusblume befand. Jedes ihrer Blütenblätter war mit geheimen Symbolen versehen. »Ist es ein Gebet?«
»Nicht ganz. Ein Talisman. Ein Schutzzauber, gesegnet von Rinpoche und geschrieben auf dem Fragment eines alten heiligen Buches. Sehr
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