Der fremde Tibeter
Oberst schob Shan die Akte der Öffentlichen Sicherheit herüber. »Sein Name ist Sungpo. Vierzig Jahre alt. Verhaftet in einem kleinen Kloster namens Saskya im äußersten Norden des Landes. Keine Lizenz. Verflucht nachlässig, die Leute in ihre heimatlichen gompas zurückkehren zu lassen.«
»Sie wollen ihn nicht nur wegen Mordes vor Gericht stellen, sondern auch, weil er ohne Erlaubnis als Mönch praktiziert hat?« Shan konnte nicht anders. »Wirkt das nicht ein wenig...« Er suchte nach einem passenden Wort. »Übereifrig?«
Tan runzelte die Stirn. »Es muß in dem gompa noch andere geben, die man unter Druck setzen kann. Der übliche Satz für das Tragen einer Kutte ohne Lizenz beträgt zwei Jahre. Jao hat diese Strafe ständig verhängt. Falls nötig, schnapp sie dir und drohe ihnen mit dem lao gai, sofern sie nicht reden wollen.«
Shan starrte ihn an.
»Na gut«, gab Tan kaltlächelnd nach. »Sag ihnen, daß ich sie ins lao gai schicken werde.«
»Sie haben noch nicht gesagt, wie man auf den Mann gekommen ist.«
»Durch einen Informanten. Es gab einen anonymen Anruf in Jaos Büro.«
»Das heißt, Li hat die Verhaftung vorgenommen?«
»Ein Team der Öffentlichen Sicherheit.«
»Also hat er mit eigenen Ermittlungen angefangen?«
Wie aufs Stichwort ertönte ein lautes Hämmern an der Tür. Eine hohe Stimme protestierte, und Madame Ko erschien. »Genosse Li«, meldete sie mit errötetem Gesicht. »Er besteht darauf.«
»Sagen Sie ihm, er soll später vorbeikommen. Geben Sie ihm einen Termin.«
Ein winziges Lächeln verriet, wie gut Madame Ko dieser Vorschlag gefiel. »Da ist noch jemand«, fügte sie hinzu. »Von der amerikanischen Mine.«
Tan seufzte und wies auf einen Stuhl in der Ecke. Gehorsam nahm Shan dort Platz. »Bitten Sie ihn herein.«
Lis Proteste nahmen an Lautstärke zu, als eine Gestalt zur Tür hereinstürmte. Es war die rothaarige Amerikanerin, die Shan bei der Höhle gesehen hatte. Sie und Tan musterten sich verwirrt.
»Es gibt dazu wirklich nichts mehr zu sagen, Miss Fowler«, sagte Tan in eiskaltem Tonfall. »Die Angelegenheit ist abgeschlossen.«
»Ich habe darum gebeten, Ankläger Jao zu sprechen«, erwiderte Fowler zögernd und ließ den Blick durch das Büro schweifen. »Man hat mir gesagt, ich solle herkommen. Ich dachte, vielleicht ist er zurückgekehrt.«
»Sie sind nicht wegen der Höhle hier?«
»Wir haben beide unseren Standpunkt geäußert. Ich werde mich schriftlich beim Religionsbüro beschweren.«
»Das könnte peinlich werden«, erwiderte Oberst Tan.
»Sie haben auch allen Grund dazu, peinlich berührt zu sein.«
»Ich meine, für Sie. Sie haben keinerlei Beweise. Es gibt gar keine Grundlage für eine Beschwerde. Wir werden aussagen müssen, daß Sie sich unbefugt in eine Militäroperation eingemischt haben.«
»Sie hatte vor, Ankläger Jao aufzusuchen«, schaltete Shan sich ein.
Tan warf ihm einen wütenden Blick zu, während Fowler zum Fenster ging, so daß sie nur ein kurzes Stück neben Shan stand. Sie trug wieder Bluejeans, dieselben Wanderstiefel und eine blaue Nylonweste, wie Shan sie auch bei dem Amerikaner vor der Höhle gesehen hatte. Um ihren Hals hing an einer schwarzen Kordel eine Sonnenbrille. Sie trug kein Makeup und keinen Schmuck, abgesehen von winzigen goldenen Ohrsteckern. Wie lautete doch der andere Name, den Oberst Tan benutzt hatte? Rebecca. Rebecca Fowler. Die Amerikanerin warf einen kurzen Blick auf Shan, und er sah, daß sie ihn wiedererkannte. Du warst auch da, beschuldigten ihre Augen ihn, und hast die Ruhe eines heiligen Orts gestört.
»Tut mir leid. Ich bin nicht hergekommen, um mich zu streiten«, sagte sie in neuem, versöhnlicherem Tonfall zu Tan.
»Es gibt ein Problem bei der Mine.«
»Falls es dort keine Probleme gäbe«, stellte Tan teilnahmslos fest, »würde man Sie nicht zur Leitung der Mine benötigen.«
Ihre Züge verhärteten sich. Shan konnte erkennen, wie sehr sie mit sich rang, keinen neuen Disput zu beginnen. Sie entschloß sich, den Blick himmelwärts zu richten. »Ein Arbeitsproblem.«
»Dann ist das Ministerium für Geologie die zuständige Stelle. Vielleicht kann Direktor Hu Ihnen behilflich sein«, schlug Tan vor.
»Es geht nicht um diese Art von Problem.« Sie drehte sich um und sah Tan an. »Ich würde einfach nur gern mit Jao sprechen. Ich weiß, daß er vermutlich unterwegs ist. Eine Telefonnummer würde mir schon genügen.«
»Wieso Jao?« fragte Tan.
»Wenn ich ein Problem habe, das ich nicht
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