Der fremde Tibeter
was er tat.«
»Richtig. Aber er sollte nicht etwa die Höhle aufgeben, sondern die Buchführung. Jao war der Ansicht, das Justizministerium müsse einen größeren Anteil erhalten. Sein Büro. Ich habe das schriftlich. Er hat ein paar Beschwerdebriefe verfaßt und mich um Vermittlung gebeten. Madame Ko kann dir Kopien davon geben.«
Shan sank auf einen Stuhl und schloß die Augen. Hu war es nicht. »Was ist mit seinen Leuten? Können wir die Akten über deren Vorgeschichte bekommen?«
Tan nickte nachsichtig. »Madame Ko wird sie anfordern.«
»Wer auch immer Jao ermordet hat, wollte damit etwas über diese Höhle zum Ausdruck bringen.«
»Dann frag ihn.«
»Der Gefangene spricht nicht.«
»Dann geh und frag deinen verdammten Dämon«, erwiderte Tan gereizt und ging zu seinem Schreibtisch.
»Das würde ich gern. Was meinen Sie, wo soll ich nachsehen?«
»Da kann ich dir auch nicht helfen. Dämonen werden nicht von mir verwaltet.« Er nahm eine Akte und wies auf die Tür.
Shan stand auf und wußte auf einmal genau, wohin er sich wenden mußte. Es gab tatsächlich jemanden, der Dämonen verwaltete.
Wie so vieles andere in Tibet, unterlag auch das Wetter besonderen Gesetzen. Nur selten war es trocken, ohne daß gleich eine Dürre hereinbrach, und praktisch jeder Regenguß glich einer mittleren Sintflut. Als er von Tans Büro aufgebrochen war, hatte strahlender Sonnenschein geherrscht, aber bis sie die Räumlichkeiten des Büros für Religiöse Angelegenheiten im Nordteil der Stadt erreicht hatten, war das Wetter komplett umgeschlagen. Der Himmel schüttete kleine Eisbälle über sie aus. Shan hatte mal gelesen, daß jährlich fünfzig Tibeter durch Hagelschauer ums Leben kamen. Bevor er aus dem Wagen stieg, reichte er Feng ein Stück Papier. »Gefreiter Meng Lau aus dem Lager Jadefrühling. Ich brauche Ihre Hilfe, um herauszufinden, ob er in der Nacht des Mordes an der Zufahrt zur Höhle Wachdienst gehabt hat.«
Sergeant Feng nahm das Blatt regungslos entgegen. Offenbar war er sich nicht sicher, wie er auf diese Bitte Shans reagieren sollte.
»Sie wissen, wen Sie fragen müssen. Mir würde man das nie verraten, selbst wenn ich den Versuch unternähme. Bitte, Genosse Sergeant.«
Feng warf den Zettel auf das Armaturenbrett und riß die Verpackung eines Schokoriegels auf. Sein Desinteresse schien Shan zu verspotten.
Shan und Yeshe wurden mit einer knappen Entschuldigung in ein leeres Büro im ersten Stock geführt. Dann bot man ihnen den obligatorischen Tee an. Shan schlenderte in dem Zimmer umher. In einem Ablagekorb auf dem Schreibtisch befand sich ein Stapel Zeitschriften, deren oberste China bei der Arbeit war, ein Parteiorgan, in dem Hochglanzbilder des Proletariats veröffentlicht wurden. Auf dem Beistelltisch lag ein einzelnes Buch, dessen Titel Arbeiterhelden der sozialistischen Teppichfabriken lautete. Shan hob die Zeitschriften an. Unten im Stapel lagen einige amerikanische Nachrichtenmagazine, das jüngste mehr als ein Jahr alt.
Sie waren allein. »Haben Sie entschieden, was Sie tun werden?« fragte Shan. »Hinsichtlich der purbas.« Und der Amerikaner, hätte er beinahe hinzugefügt.
Yeshe schaute nervös zur Tür. Er zog die schmalen Schultern zusammen, und sein Gesicht verzog sich, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Ich bin kein Informant. Aber manchmal stellt man mir Fragen. Was kann ich tun? Für Sie ist es einfach. Ich muß an meine Freiheit denken. Mein Leben. Meine Pläne.«
»Verstehen Sie denn nicht, was der Gefängnisdirektor Ihnen angetan hat?« fragte Shan. »Sie müssen hier raus.«
»Was hat er denn schon getan? Er hilft mir. Er ist vielleicht der einzige Freund, den ich habe.«
»Ich werde den Oberst um einen neuen Assistenten bitten. Sie müssen hier raus.«
»Was hat Zhong getan?« hakte Yeshe nach.
»Sie mißverstehen die Justizorgane. Daß man Ihnen, einem Tibeter, sofort nach der Umerziehung in einem Arbeitslager eine Anstellung in Chengdu anbietet, wäre nicht nur sehr ungewöhnlich, sondern für Zhong absolut unmöglich zu bewerkstelligen. Die Öffentliche Sicherheit in Chengdu müßte zustimmen, nachdem sie zuvor ein offizielles Gesuch der Öffentlichen Sicherheit in Lhasa erhalten hat. Der neue Arbeitgeber müßte einverstanden sein, ohne Sie zu kennen, was niemals geschehen würde. Man müßte Reisepapiere auf den Namen Ihrer neuen Arbeitseinheit ausstellen, die gar nicht existiert. Zhong hat keine Papiere für Sie. Solche Dinge unterstehen nicht seiner
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