Der fremde Tibeter
begreifen, wie man mit diesen Kostümen umzugehen hatte. Bis sie gut genug für eine Zeremonie waren und die Tänze und genauen Bewegungen kannten, benötigten sie bisweilen mehrere Jahre.«
»Aber eine kurze Vorführung bei einem der neuen Projekte müßte machbar sein«, behauptete Wen. »Die Amerikaner brauchten doch gar nicht den authentischen Tanz zu sehen, sondern bloß die Kostüme, verbunden mit ein paar anmutigen Bewegungen, einigen Zimbeln und Trommeln. Sie könnten Fotos schießen.«
Miss Taring schenkte Direktor Wen ein knappes, unverbindliches Lächeln.
»Neue Projekte?« fragte Shan.
»Ich bin erfreut, Ihnen mitteilen zu können, daß einige gompas unter unserer Aufsicht wieder aufgebaut worden sind. Es stehen dafür öffentliche Mittel zur Verfügung.«
Öffentliche Mittel. Was mochte das bedeuten? überlegte Shan. Daß man die alten Schreine ausplünderte, um stattdessen Attrappen zu errichten? Daß man Altertümer zerstörte, um mit dem Erlös Kulissen zu finanzieren, in denen man buddhistische Scharaden für die Touristen aufführen konnte? »Hat Ankläger Jao an der Erteilung der Lizenzen für solche Projekte mitgewirkt?« fragte er.
Der Direktor stellte seine Tasse ab. »Danke, Miss Taring.« Die Archivarin stand auf und verneigte sich leicht vor Shan und Yeshe. Wen wartete, bis sie gegangen war. »Tut mir leid. Ich glaube, Sie wollten auf den Mord zu sprechen kommen.«
»Genosse Direktor, ich habe die ganze Zeit über den Mord gesprochen«, sagte Shan.
Wen starrte ihn mit neuem Interesse an. »Es gibt ein Komitee. Jao, Oberst Tan und ich selbst. Jeder hat hinsichtlich der Entscheidungen ein Vetorecht.«
»Nur wenn es um den Wiederaufbau geht.«
»Bei Lizenzen, Aufbauprojekten, der Genehmigung zur Aufnahme neuer Novizen, der Publikation religiöser Traktate, der Einladung der Öffentlichkeit zur Teilnahme an Gottesdiensten.«
»Hat Ankläger Jao jemals einen solchen Antrag abgelehnt?« fragte Shan.
»Das haben wir alle schon getan. Die Verteilung der kulturellen Ressourcen muß genau abgewogen werden, um Mißbrauch zu vermeiden. Die tibetische Minderheit ist nur ein kleiner Teil der chinesischen Bevölkerung. Wir können einfach nicht jedes Gesuch pauschal genehmigen«, verkündete Wen nachdrücklich und mit geübter Stimme.
»Und in letzter Zeit? Gab es irgendein besonderes Projekt, das Jao partout nicht unterstützen wollte?«
Wen schaute zur Decke und verschränkte die Hände im Nacken. »Nur eines während der letzten paar Monate. Er hat einen Antrag auf Wiederaufbau abgelehnt. Das Kloster Saskya.«
Saskya war Sungpos gompa. »Aus welchem Grund?«
»Am unteren Ende desselben Tals gibt es noch ein weiteres, größeres gompa. Khartok. Es hatte zuvor bereits um Wiederaufbau ersucht. Es liegt weitaus günstiger für die Besucher und bedeutet daher eine bessere Investition.«
Shan stand auf. »Ich habe gehört, Sie seien noch nicht lange auf diesem Posten.«
»Knapp sechs Monate.«
»Es heißt, Ihr Vorgänger sei ermordet worden.«
Direktor Wen nickte bekümmert. »Zu Hause gilt er als Märtyrer.«
»Aber fürchten Sie denn gar nicht um Ihr Leben? Ich habe keine Wachen gesehen.«
»Wir lassen uns nicht einschüchtern, Genosse. Ich habe eine Aufgabe zu erledigen«, verkündete Wen entschieden. »Die Minderheiten haben das Recht, ihre Kultur zu bewahren. Doch solange es kein Gleichgewicht gibt, droht Gefahr von Reaktionären. Peking traut nur wenigen von uns zu, hier an vorderster Front für Ordnung zu sorgen. Ohne uns würde Chaos herrschen.«
Kapitel 9
Der Nachthimmel wurde in Tibet geboren. Nirgendwo sonst waren die Sterne so zahlreich, die Dunkelheit so schwarz und der Himmel so nah. Die Leute schauten nach oben und fingen an zu weinen, ohne den Grund dafür zu kennen. Manchmal stahlen Häftlinge sich aus ihren Hütten, um schweigend auf dem Boden zu liegen und das Firmament zu beobachten. Im Jahr zuvor hatte man im Lager der 404ten eines Morgens einen alten Priester in dieser Position vorgefunden. Er war erfroren, und seine toten Augen starrten in den Himmel. Neben sich hatte er zwei Worte in den Schnee geschrieben. Fangt mich.
Shan lehnte den Kopf gegen die Seitenscheibe, während der Wagen auf der langen Reise nach Norden aus dem Tal emporstieg und sich immer mehr dem Himmel näherte. In manchen gompas gab es einen Test für die Novizen. Geh nachts nach draußen und begib dich an den Ort eines Himmelsbegräbnisses. Lege dich neben die von Vögeln abgenagten Knochen und
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