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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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betrachte den Himmel. Einige kehrten nicht zurück.
    »Alle reden von diesem Häftling Lokesh«, ertönte Yeshes Stimme aus der Dunkelheit hinter Shan. »Sie haben etwas für ihn getan.«
    »Etwas getan?« fuhr Sergeant Feng barsch dazwischen. »Er hat uns an der Nase herumgeführt.«
    »Es war bloß ein harmloser alter Mann. Ein tzedrung«, sagte Shan und benutzte den tibetischen Ausdruck für einen Beamten der Mönche. »Unter der Regierung des Dalai Lama war er Steuereintreiber gewesen. Seine Freilassung war schon längst überfällig.«
    Feng schnaubte verächtlich. »Genau. Wir lassen am besten die Häftlinge darüber entscheiden, wann wir das Tor öffnen sollten.«
    »Aber wie konnten Sie...?« Yeshe beugte sich vor. Nachdem er genug Mut gefaßt hatte, um die Frage zu stellen, wollte er nicht so einfach aufgeben.
    »Ich hatte ein Dekret gesehen, das zehn Jahre zuvor vom Staatsrat erlassen worden war. Zu Ehren des Geburtstags unseres Vorsitzenden Mao wurde für alle Angehörigen der früheren tibetischen Regierung eine Amnestie verfügt. Direktor Zhong hatte diesen Erlaß wohl übersehen.«
    »Also haben Sie den Direktor über seine Pflichten belehrt?« fragte Yeshe ungläubig.
    »Ich habe ihn daran erinnert.«
    »Verdammt«, fluchte Sergeant Feng. »Ihn daran erinnert! Er hat ihm praktisch in aller Öffentlichkeit die Hose heruntergezogen.« Er verlangsamte den Wagen und beugte sich zu Yeshe nach hinten. »Was Häftling Shan nicht erwähnt, ist die Tatsache, daß er niemanden an irgendwas erinnern konnte. Das hätte ein Disziplinarvergehen bedeutet. Also hat er statt dessen den Politoffizier um Material gebeten, weil man zu Ehren von Maos Gedenktag ein Banner anfertigen wollte.«
    »Ein Banner?«
    »Ein großes verdammtes Banner, damit alle es sehen würden. Das zeuge von patriotischer Gesinnung, hat Leutnant Chang geprahlt. Die Familien waren gekommen. Die Leute aus der Stadt waren gekommen. Die Wachen haben eine Parade abgehalten. Und dann wird auf dem Dach ihrer Hütte das Banner aufgestellt. Zu Ehren von Mao, stand darauf, in dessen Gedenken der Staatsrat alle früheren Beamten begnadigt hat. Sogar Monat und Jahr des Erlasses wurden genannt, damit auch niemand durcheinanderkommen würde. In der folgenden Woche hat der Politoffizier ziemlich viel Zeit mit Shan verbracht.«
    »Aber dieser alte Mann wurde freigelassen?«
    »Oberst Tan hat eine Petition erhalten. Das war nicht nur ein Rechtsbruch, sondern auch der Mißbrauch eines Geschenks von Mao. Man drohte mit Demonstrationen. Also hat der Oberst vor aller Welt eingeräumt, daß Direktor Zhong einen Fehler begangen hatte.«
    Sie fuhren weiter, Kilometer um Kilometer, und verschmolzen mit den Sternen. Inzwischen hatten sie eine so große Höhe erreicht, daß die Straße jegliche Verbindung zu dem Planeten verloren zu haben schien. Nur einige schwarze Flecke am unteren Rand des Himmels zeugten davon, daß sie sich nach wie vor im Gebirge befanden.
    »Warum haben Sie Angst vor Direktor Wen gehabt?« hörte Shan sich Yeshe fragen, ohne vorher auch nur an diese Frage gedacht zu haben.
    »Ich wollte mich nicht fürchten«, kam nach langem Zögern die Antwort aus dem Dunkel. »Aber er ist der Abt. Für ganz Lhadrung.«
    Der gewissenhafte Direktor Wen war ein Abt? Dann begriff Shan. »Ein Priester hätte Angst vor Wen.« Wens Siegel entschied darüber, wer Priester war und wer nicht. Sein Siegel konnte gompas zerstören.
    »Ich bin kein Priester.«
    »Sie waren ein Priester.« Shan erinnerte sich an Yeshes unheimliches Mantra in der Schädelhöhle.
    »Ich weiß nicht.« Yeshes Stimme klang zögernd und schmerzlich berührt. »Das war lediglich ein Abschnitt meines Lebens und ist schon lange vorbei.«
    Für Sie gibt es kein lange vorbei, hätte Shan beinahe gesagt. Wagen Sie nicht noch einmal, von lange vorbei zu sprechen, nicht bevor Sie wie wir anderen Ihre ganz persönlichen Alpträume erduldet haben, nicht bevor Ihre Erinnerungen derart morsch sind, daß sie wie dünne Zweige zerbrechen, wenn die Politoffiziere Sie anschreien, ein Geständnis abzulegen. »Dann haben Sie die Universität von Chengdu besucht«, sagte Shan statt dessen. »Aber Sie wurden zur Umerziehung zurückgeschickt. Warum?«
    »Das war ein Mißverständnis.«
    »Sie meinen ein Justizirrtum?«
    Yeshe gab ein Geräusch von sich, das vielleicht ein Lachen war. »Jemand hat in einem der Unterrichtsräume ein Bild von Mao gegen ein Foto des Dalai Lama ausgetauscht. Als niemand sich zu der Tat

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