Der freundliche Mr Crippen | Roman
sich Sorgen gemacht, wie er mit seinem neuen Vermieter wohl auskommen würde, aber jetzt, da er ihn vor sich sah, war ihm klar, dass seine Sorgen unbegründet gewesen waren. Er holte eine weitere Zigarette aus einem silbernen Zigarettenetui und steckte sie sich an, ohne zu fragen, ob er rauchen dürfe, oder Hawley eine anzubieten. Das Etui schien teuer gewesen zu sein, und Hawley benutzte den Umstand, um das Schweigen zwischen ihnen zu brechen.
»Was für ein schönes Etui«, sagte er. »Ein Geschenk?«
Alec zuckte mit den Schultern. »Eine Frau, die ich mal in Chelsea kannte, hat es mir geschenkt«, sagte er mit einem schnellen Zwinkern. »Hübsch, wie?«
»Ja, sehr hübsch«, gab Hawley zu.
»Ich habe es mir verdient, glauben Sie mir.«
Hawley nickte. »Sie haben also für sie gearbeitet?«, fragte er. »Waren Sie bei ihr angestellt, bevor Sie zur Music Hall gekommen sind?«
»Gearbeitet habe ich nicht für sie«, sagte Alec in angewidertem Ton. »Bestimmt nicht.«
»Aber Sie sagten, Sie hätten es sich verdient?«
Alec steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, sog kräftig daran, blies eine dünne Rauchfahne in die Luft und beobachtete, wie sie sich auflöste, bevor er sich die Mühe machte zu antworten. »Das habe ich«, sagte er leise.
»Hawley, könntest du mir das bitte aufmachen?«, fragte Cora, die mit einem Glas Eingemachtem hereinkam, dessen Deckel nicht nachgeben wollte. »Ich bekomme diese Gläser nie auf«, sagte sie mit einem Lachen.
Hawley mühte sich mit dem Deckel ab, wusste aber gleich, dass auch er ihn nicht aufbekommen würde. Der Deckel war etwas fettig, und er bekam ihn nicht richtig zu fassen. Sein Gesicht lief vor Anstrengung rot an, aber er schaffte es nicht. Ohne ein Wort langte Alec zu ihm hin, nahm das Glas und legte seine große Hand um den Deckel. Völlig mühelos öffnete er ihn. Es war, als müsste er nur hinsehen, um das Ding vor Angst aufgehen zu lassen. Hawley sank auf dem großen Sofa in sich zusammen, sah Alec Heath entspannt in seinem Sessel sitzen und begriff, dass er nicht länger der Herr in seinem eigenen Haus war – wenn er es denn überhaupt je gewesen war.
»Danke«, sagte Cora und nahm das Glas zurück. »Hawley, wird es nicht wunderbar sein, Alec im Haus zu haben?«, rief sie, bereits wieder aus der Küche. »Er wird all die kleinen Dinge tun können, die wir beide nicht schaffen. So eine Hilfe!«
»In der Tat«, sagte Hawley ohne jede Überzeugung.
»Alles, was Sie nicht schaffen«, sagte Alec zu Hawley und lächelte.
»Ich werde es im Hinterkopf behalten.«
»Es wird so nützlich sein, einen Mann im Haus zu haben«, rief Cora und kam zurück ins Wohnzimmer.
»Ich bin auch ein Mann, meine Liebe«, sagte Hawley.
»Einen jungen Mann«, korrigierte sie sich. »Schließlich schaffst du körperlich nicht mehr alles, was früher einmal ging, oder? Es wäre unfair, dich überhaupt darum zu bitten. Nein, jetzt, wo wir Alec bei uns haben, wird es besser.« Sie streckte den Arm aus, wuschelte dem jungen Mann durchs Haar und ließ ihre Finger etwas länger in seinem dichten schwarzen Schopf stecken, als es angemessen schien. Hawley sah Alec an. Lächelte er? Sein Gesicht war hinter einer dicken Rauchwolke verborgen, und Hawley konnte nur die kalten grauen Augen erkennen, die seinen Blick verächtlich erwiderten.
Es war ein Dienstagabend im Spätsommer, und Hawley spazierte allein durch den Garten ihres Hauses am Hilldrop Crescent. Die Hände in den Taschen, zog er mit der Schuhspitze Linien in die Erde. Cora war vor ein paar Stunden zu einem ihrer regelmäßigen Auftritte ins Majestic aufgebrochen, in dem roten Kleid, das ihn vor Monaten sechs Shilling gekostet hatte. In letzter Zeit hatte er es sich angewöhnt, die Praxis dienstags geschlossen zu halten und von Munyon’s direkt nach Hause zurückzukehren. Mit der Praxis verdiente er sowieso kaum noch Geld, auch wenn das nicht der Grund für seinen freien Tag war. Tatsächlich war es der einzige Abend in der Woche, an dem er das Haus für sich hatte, und er liebte die Ruhe und den Frieden, den ihm das verschaffte. In den letzten zwölf Wochen war es mit seinem Leben immer weiter abwärtsgegangen, und mittlerweile konnte er es kaum noch abwarten, bis endlich Schlafenszeit war, schenkte ihm doch allein der Schlaf noch Erleichterung von der Tretmühle des Alltags. Nur die ersten paar Sekunden morgens waren friedvoll, wenn er langsam erwachte, bevor ihm bewusst wurde, wie erbärmlich sein Leben geworden
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