Der freundliche Mr Crippen | Roman
Publikum. Das Letzte, was sie da braucht, ist, von mir geplagt zu werden.«
»Aber Sie sind ihr Mann.«
»Genau.«
Er goss eine Kanne Tee für sie beide auf und deckte den Tisch mit zwei Tassen. Es war schön, dachte er, jemanden zu bewirten, mit dem er befreundet war, und ihm kam der Gedanke, dass er es noch nie zuvor getan hatte und Ethel wohl sein bester Freund war. In dem Jahr, seit sie zusammenarbeiteten, hatten sie eine enge Gemeinschaft entwickelt, sie vertrauten einander völlig und genossen die Gesellschaft und den Humor des anderen. Obwohl er nicht zu lange bei dem Gedanken verweilen wollte, wusste er, dass ihre Gegenwart einer der wenigen Lichtblicke in seinem Leben war.
»Es ist merkwürdig, Sie hier zu haben«, sagte er. »An meinem Tisch, beim Tee. Ich glaube, wir haben uns noch kein einziges Mal außerhalb des Ladens gesehen, oder? Es ist fast wie in einer anderen Welt.«
»Das stimmt«, sagte sie, nahm einen Schluck und hätte sich beinahe die Zunge verbrannt. »Wir haben eben beide noch ein Leben außerhalb von Munyon’s. Sie sind ein verheirateter Mann. Das allein ist schon eine eigene Welt.«
»Haben Sie nie heiraten wollen?« Es war das erste Mal, dass er sie so etwas Persönliches fragte, aber hier in dieser Umgebung schien es ihm nur angemessen, es zu tun.
Die Frage war jedoch etwas befremdlich, war Ethel doch erst zwanzig Jahre alt und konnte kaum als alte Jungfer gelten. Ethel wurde rot und sah aufs Tischtuch hinunter. »Bis jetzt noch nicht«, sagte sie. »Es scheint sich kein Mann in mich verlieben zu wollen.«
»Das kann ich kaum glauben.«
»Es ist aber so«, sagte sie. »Manchmal spricht mich ein junger Mann bei einem Tanz oder auf der Straße an, aber …« Ihre Stimme versiegte, und sie berührte verlegen die Narbe auf der Oberlippe, so als wäre sie der Hinderungsgrund für jegliche Romantik. »Irgendwie scheint nie etwas daraus zu werden«, schloss sie.
»Eines Tages schon«, sagte er, »und zwar sehr bald. Daran habe ich keinen Zweifel.«
»Ich hoffe es«, sagte sie, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, das er nur erwidern konnte. »Es muss schon etwas sein, so lange verheiratet zu sein wie Sie und Mrs Crippen. Und wie gemütlich Sie es haben. Wie lange sind Sie jetzt zusammen?«
»Elf Jahre«, sagte er mit einem Seufzen. »Jaja.«
»Das ist so eine lange Zeit. Da war ich erst neun. Noch ein Kind.«
»Guter Gott, aber das sind Sie immer noch!«
»Kaum.«
»Natürlich sind Sie das! Mit aller Zeit, Schönheit und Intelligenz auf Ihrer Seite. Wirklich, Ethel. Sie dürfen nicht schlecht über sich reden. Das ist nicht gut.«
Sie sah ihn an und legte den Kopf leicht zur Seite. Seine Worte schmeichelten ihr. Sie war immer schon froh gewesen, an jenem Tag zu Munyon’s hineingegangen zu sein, als sie das »Mitarbeiter-gesucht«-Schild im Fenster gesehen hatte. Sie konnte sich kaum einen besseren Vorgesetzten und Freund als Hawley vorstellen. Natürlich waren sie zunächst etwas reservierter miteinander umgegangen, und es hatte einige Zeit gedauert, sich näher kennenzulernen und einander zu vertrauen. Mit der Vertrautheit hatte sich jedoch auch eine Zuneigung herausgebildet, und das war ihm so wichtig wie ihr, das wusste sie. Sie war drauf und dran, alles zu riskieren und ihm zu sagen, wie sehr sie ihn wirklich mochte, als draußen eine Tür knallte. Es war die Eingangstür, und Cora Crippen stürmte herein wie ein Tornado, der unangekündigt über eine friedliche Stadt hereinbrach.
»Zum Teufel mit allem!«, schrie sie, warf den Hut quer durchs Zimmer, und ihre Stimme schnitt mit solchem Gift und solcher Lautstärke durch die Luft, dass die Fenster erzitterten. Hawley fuhr entsetzt zusammen, während Ethel diese Wahnsinnige, die da so urplötzlich aufgetaucht war, nur erschrocken und mit offenem Mund anzustarren vermochte. »Zum Teufel damit!«, schrie Cora wieder, jetzt noch lauter, ballte die Fäuste und brüllte wie ein tollwütiger Hund.
»Cora!«, sagte Hawley, sprang auf und lief zu ihr. »Was um alles in der Welt ist geschehen? Was ist dir zugestoßen? Hat man dich angegriffen?«
»Angegriffen?
Angegriffen?
«, fragte sie durch zusammengebissene Zähne hindurch. »Schlimmer. Ich bin übler beleidigt worden, als es je ein Mensch erleiden sollte. Ich sage dir, Hawley, ich nehme mir eine Schachtel Streichhölzer und brenne diese Music Hall bis auf die Grundmauern nieder, bevor ich so etwas noch einmal geschehen lasse.« Während sie sprach,
Weitere Kostenlose Bücher