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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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schwoll ihre Stimme immer mehr an, und Hawley konnte sie nur wie gelähmt anstarren und vergaß völlig, dass er einen Gast hatte. Er hatte Cora schon wütend erlebt, aber nicht in dieser Form, und obwohl er wusste, dass er keinerlei Schuld daran trug, war er sicher, dass er den Preis dafür bezahlen würde.
    »Himmel noch mal, Cora, sag mir, was ist passiert?«
    Sie sah ihn an, und dann fiel ihr Blick auf Ethel, die am Tisch saß und sich nervös mit einer Hand an der Stuhllehne festhielt. Sie betrachtete die ältere Frau, als wäre sie nicht sicher, ob Cora gleich über sie herfallen und sie zerfleischen würde. »Wer ist das?«, wollte Cora wissen und sah ihren Mann an, bevor sie den Blick erneut auf die Person an ihrem Tisch richtete. »Wer sind Sie?«, fuhr sie Ethel an.
    »Das ist Miss LeNeve, Cora«, erklärte Hawley. »Ich habe dir von ihr erzählt, und du hast sie auch schon gesehen. Sie ist meine Assistentin bei Munyon’s.«
    »
Miss
LeNeve?«, fragte Cora verächtlich. »Ich dachte schon, Sie seien ein Junge. Stehen Sie auf, damit ich Sie mir richtig ansehen kann.« Ethel stand gehorsam auf und starrte auf den Boden, die Hände fest vor dem Leib verschränkt. »Hm, vielleicht sind Sie doch eine Miss«, sagte Cora. »Nun, und was ist? Was tun Sie hier?«
    »Ethel hat mir meine Schlüssel gebracht«, sagte Hawley. »Aber das ist unwichtig. Sag mir schon, was geschehen ist.«
    Die Erinnerung daran ließ Cora erneut aufschreien. Hawley fuhr erschreckt zurück und fragte sich, ob sie womöglich einen Arzt brauchte. Einen
richtigen
Arzt. »Es ist
unerträglich!
«, schrie sie.
    »Vielleicht sollte ich lieber gehen«, sagte Ethel, die nicht weiter Zeuge dieser Szene sein wollte.
    »Ja, ja, vielleicht«, sagte Hawley, trat zu ihr, nahm ihren Arm und brachte sie zur Tür. »Sie müssen entschuldigen, Ethel«, flüsterte er, als er sie hinausließ. »Ich weiß nicht, was über sie gekommen ist. Ich verspreche Ihnen, dass sie normalerweise nicht so ist.«
    »Sicher«, sagte Ethel wenig überzeugt. »Ich sehe Sie morgen, Hawley.«
    »Ja, und noch einmal: Es tut mir leid, und danke für die Schlüssel.«
    Sie standen einen Moment lang in der offenen Tür und sahen sich an. Ethel verspürte den Wunsch, ihm über die Wange zu streichen. Er sah blass und müde aus, und sie wollte die Hand auf sein Gesicht legen und es wärmen. Stattdessen drehte sie sich widerstrebend um und ging davon. Sie verspürte nichts als Mitgefühl für diesen armen Menschen, der das Pech hatte, mit solch einem Drachen verheiratet zu sein.
    Ähnlich warme Gefühle für Ethel verspürte Hawley Harvey Crippen, als er zurück ins Wohnzimmer ging, hin- und hergerissen zwischen Wut und Angst, und seine Frau anstarrte, die wie ein werdender Vater den Raum durchmaß.
    »Himmel noch mal jetzt, Cora«, rief er. »Sag mir endlich, was geschehen ist.«
    »Dieser
Bastard«
, schrie sie.
    »Cora!«
    »Ich meine es so, Hawley. Dieser
Bastard!
«
    »Wer? Von wem redest du?«
    »Von dem Hurensohn, der das Majestic leitet, von dem rede ich«, schrie sie. »Diesem scheißefressenden Ungeheuer. Ich bringe ihn um! Ich reiße ihm die Innereien heraus und stopfe sie ihm ins Maul, ich schwöre es.«
    »Cora, beruhige dich«, sagte Hawley. Nervös nahm er sie beim Arm und führte sie zum Sofa. »Du bist ja ganz außer dir. Atme. Atme eine Minute lang ganz ruhig durch.«
    Ausnahmsweise einmal tat sie, was er sagte, sog die Luft tief in sich hinein, verdrehte die Augen und schnaubte auch schon wieder empört. »Mr Hammond«, sagte sie endlich. »Der Leiter der Music Hall.«
    »Ja? Und was hat er getan?«
    »Er hat mich in sein Büro gebeten«, erklärte sie. »Vor Beginn der Show. Zuckersüß hat er gelächelt und war so schleimig nett wie immer, und dann sagt er mir, dass er ein tolles neues Talent gefunden hat, so ein junges Ding, das Maisie Irgendwas heißt. Offenbar hat er sie singen hören und denkt, sie ist das Beste, was ihm je untergekommen ist. Er gibt ihr einen Platz auf dem Plakat, hat er gesagt. ›Das stört mich nicht‹, sage ich. ›Warum sollte es das?‹ Und dann sagt er mir, dass in der zweiten Hälfte der Show nur Platz für eine Sängerin ist, und dass ihre Stimme besser ist als meine, und dass es ihm leidtut, aber er kann nichts dran ändern.«
    »O Cora«, sagte er traurig, da er wusste, was für ein Schlag das für sie sein musste.
    »Und dann wirft er mich aus seinem Büro, gibt mir meine letzte Gage, und ich bin runter vom Plakat. Ohne

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