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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Doktor hier je leid werden, wissen Sie, an wen Sie sich wenden können.«
    »Wenn?«,
antwortete sie und schnaubte kurz. »Was für ein Witz.«
    »Danke, Mr Micklefield«, sagte Hawley, schob ihn durch die Tür und schloss sie hinter ihm. Einen Moment lang starrte er auf das Holz über der Klinke. Er wollte sich noch nicht umdrehen, machte die Augen kurz zu und genoss einen Moment des Friedens.
    »Sechs Shilling, Hawley«, wiederholte Cora, als er sich endlich umwandte. Sie stand in der Tür zur Diele, sah ihn entschlossen an, und er wusste, es gab keine andere Möglichkeit. »Sechs Shilling liegen morgen früh neben meinem Bett, oder es gibt Ärger.«
    Er nickte und sagte seine meistgenutzten Worte ihr gegenüber: »Ja, meine Liebe.«
     
    Wenn Hawley dachte, seiner Frau seien ihre finanziellen Probleme gleichgültig, wenn er glaubte, dass sie annahm, sie könne beliebig weiter Geld ausgeben und es sei immer genug da, täuschte er sich. Cora war sich mehr als bewusst, dass sie den Gürtel enger schnallen mussten, oder genauer gesagt, dass Hawleys Gürtel enger geschnallt werden musste, wenn sie den Lebensstil aufrechterhalten wollte, den sie sich wünschte. Selbstverständlich lagen die sechs Shilling am nächsten Morgen auf ihrem Nachttisch, Hawley hatte sie dorthin gelegt, bevor er zur Arbeit gegangen war – während der nächsten Tage würde er auf sein Mittagessen verzichten. Aber in den Taschen ihres Mannes gab es nicht endlos Nachschub, das wusste sie, und es war sinnlos, darauf zu warten, dass er etwas unternahm, um ihre Situation zu verbessern. Das musste sie schon selbst tun, und noch vor Ende der Nacht war ihr eine Idee gekommen, und zwar eine sehr verlockende Idee, was das betraf.
    Der folgende Dienstag war einer der mittlerweile seltenen Tage, da Hawley in seiner Praxis mehr als einen Patienten zu behandeln hatte. Als er um sieben Uhr kam, sah er sich einem Kind gegenüber, das ihn panisch anstarrte, einem kleinen Mädchen, das ganz und gar gegen seinen Willen von den streng aussehenden Eltern hergebracht worden war und mit festem Griff an der Flucht gehindert wurde. Die Zähne des Mädchens waren in einem üblen Zustand, und zwei mussten gezogen werden. Die Kleine war überzeugt, dass Dr. Crippen sie auf seinem Stuhl ermorden würde, denn zwei ihrer Klassenkameradinnen hatten bereits das Pech gehabt, ihn konsultieren zu müssen, und es bitter bereut. Noch Tage danach hatten sie den ganzen Schulhof mit ihren Erzählungen über seinen Sadismus unterhalten. Die Kleine hatte jedoch Glück, ihre Zähne lösten sich ohne Schwierigkeiten aus dem Mund, und sie hatte kaum angefangen zu weinen, als die Prozedur auch schon vorüber war, was sie unsäglich dankbar machte (was allerdings nicht bedeutete, dass sie ihren Freundinnen am nächsten Tag nicht eine grauenvolle Geschichte erzählen würde). Danach kamen ein Junge, dem im Streit mit einem anderen ein Stück Zahn abgeschlagen worden war, und eine ältere Frau, die eine Füllung brauchte. Alles in allem war es ein erfolgreicher Abend gewesen, und Hawleys Schritt hatte etwas Federndes, als er mit den Münzen in der Tasche, die seine harte Arbeit bezeugten, den Heimweg antrat. Vielleicht bekamen die guten Leute in Camden die neue Praxis doch langsam über, dachte er, ohne es wirklich zu glauben, aber es war ein angenehmer Gedanke. Vielleicht kamen jetzt alle wieder zu Dr. Crippen.
    Er betrat das Haus, legte Mantel und Hut in der Diele ab und ging mit einem Seufzer in Richtung Wohnzimmer. Von drinnen konnte er Cora singen hören, aber nur leise, als sei sie bei einer ungewohnten Beschäftigung, beim Abspülen etwa. Als er ins Wohnzimmer trat, erstarrte er und dachte einen Moment lang, er wäre womöglich im falschen Haus, bevor ihm bewusst wurde, dass das ganz und gar unmöglich war. In der Mitte des Zimmers, in
seinem
Sessel, saß ein junger Mann, rauchte eine Zigarette und las die Zeitung, die er, als Hawley hereinkam, langsam senkte, um den Hereintretenden überheblich von Kopf bis Fuß zu mustern. »’n Abend«, sagte der junge Mann mit tiefer Stimme und nickte langsam.
    Hawley sah an ihm vorbei zu seiner Frau, die sich geheimnisvollerweise tatsächlich in der Küche zu schaffen machte und mit einem Lächeln auf ihn zukam, was er schon seit Langem nicht mehr erlebt hatte. »O Hawley, Liebster«, sagte sie und hieß ihn mit einem Kuss auf die Wange willkommen. (Er zuckte überrascht zurück, als hätte er Angst, ihre Lippen wären mit Strychnin

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