Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
Vom Netzwerk:
zu bekommen.«
    »Ich glaube, das hier sollten Sie vorher noch lesen«, sagte der Beamte und hielt ihm ein Telegramm hin.
    Dew legte die Stirn in Falten. »Kann das nicht warten?«, fragte er.
    »Ich glaube nicht, Sir. Ich glaube, Sie wollen es lesen.«
    Der Inspector zögerte nur kurz, griff nach dem Telegramm und überflog es. Seine Augen wurden größer, und er las es gleich ein zweites Mal.
    »Wann ist das angekommen?«, fragte er.
    »Vor ein paar Minuten, Sir. Mit dem Marconi-Telegrafen, es wurde uns von Poldhu übermittelt. Wie ich sagte, ich wollte es Ihnen gerade bringen. Damit hat er drei Tage Vorsprung, Sir.«
    Dew sah erneut auf die Uhr und fasste einen schnellen Entschluss. »Gut«, sagte er. »Finden Sie die schnellste Möglichkeit heraus, wie ich den Atlantik überqueren kann.«
    »Was?«, fragte Milburn erstaunt.
    »Sie haben mich verstanden.«
    »Aber, Sir, das ist …«
    »Fragen Sie bei den Schifffahrtslinien nach«, sagte er, unwillig, Fragen zu beantworten. »Finden Sie heraus, welche Schiffe nach Kanada fahren und wann. Ich muss das nächstmögliche erreichen.« Er beugte sich vor und schaute um sich, um sicherzugehen, dass ihnen niemand zuhörte. »Es ist Crippen«, sagte er. »Er ist gesehen worden.«
    Milburn nickte schnell und griff nach dem Telefon. Innerhalb von fünfzehn Minuten hatte er herausgefunden, dass ein Passagierschiff, die SS
Laurentic,
um zehn Uhr am nächsten Morgen von Liverpool aus in Richtung Kanada in See stechen würde, und hatte ein Ticket für Inspector Dew gebucht. Der erste Zug aus London kam um halb zehn in Liverpool an, was kaum eine Verspätung erlaubte. Dew selbst rief die Liverpooler Polizei an und verlangte einen Fahrer zum Hafen, dann schickte er eine Nachricht an Kapitän Kendall, dass er sich auf den Weg mache, und instruierte ihn, niemandem von seiner Entdeckung zu erzählen und auf weitere Anweisung zu warten.
    Dew war bei
fünfzehn
angelangt und griff schon nach seiner Tasche, als er einen jungen Constable auf sich zurennen sah. Sie waren alle gleich, wie ihm schien: faul, unpünktlich und nachlässig, nicht so wie damals, als er noch ein junger Beamter gewesen war. Manchmal fragte er sich, was aus dem Yard werden sollte, wenn seine Generation pensioniert wurde und ihre Nachfolger am Ruder saßen. Chaos vermutlich, es würde im Chaos enden. »Kommen Sie schon!«, rief er dem jungen Mann entgegen, ohne sich um irgendwelche Formalitäten zu kümmern. »Wir haben keine Zeit zu verlieren, das Schiff legt ohne mich ab, wenn ich um zehn nicht da bin. Das habe ich Ihrem Sergeant gestern Abend genau erklärt.«
    Sie rannten nach draußen und sprangen in den wartenden Wagen. »Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, Sir«, sagte der Police Constable, als sie losfuhren.
    »Ich habe ausdrücklich jemanden für halb zehn bestellt«, sagte Dew verärgert. »Wenn das Schiff ohne mich ablegt …«
    »Es sind nur ein paar Minuten bis dorthin«, antwortete der junge Mann eindringlich. Er war bereit, sich zu entschuldigen, würde sich aber von einem Großkotz aus London nicht schurigeln lassen. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bringe Sie rechtzeitig hin.«
    Dew grunzte und starrte aus dem Fenster auf die Straßen Liverpools. Er war noch nie in dieser Stadt gewesen, aber für eine Besichtigungstour hatte er keine Zeit. Er zog noch einmal Kapitän Kendalls Marconi-Nachricht aus der Tasche und las sie fasziniert.
 … Komplize als Junge verkleidet. Nach Stimme, Verhalten und Statur eindeutig eine Frau. Bitte um Anweisungen.
Dew schüttelte den Kopf, er vermochte die Unverfrorenheit des Mannes kaum zu fassen. So ruhig und sympathisch hatte er gewirkt, als sie miteinander gesprochen hatten. Aber was er dann im Keller am Hilldrop Crescent entdeckt hatte, stellte alles auf den Kopf. Dew schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung an den Fund beiseitezuschieben, was äußerst schwierig war. In all seinen Jahren bei der Polizei hatte er nichts vergleichbar Grausiges gesehen. Er würde es wohl nie vergessen können. Ethel LeNeve war ihm ebenfalls kaum so vorgekommen, als könnte sie in so etwas verwickelt sein, sie hatte eher verhuscht und schüchtern gewirkt. Dew war immer noch von sich selbst enttäuscht, es passte nicht zu ihm, sich so hinters Licht führen zu lassen. Vielleicht werde ich alt, dachte er, bevor er den Gedanken verdrängte. Oder die anderen werden besser. Scotland Yard war sein Leben, er kannte kein anderes und war auch an keinem anderen interessiert.

Weitere Kostenlose Bücher