Der freundliche Mr Crippen | Roman
sie. »Darf ich fragen, wo?«
Das war nicht unbedingt taktvoll von ihm gewesen, und er bedauerte seine Worte. Er konnte ihr kaum sagen, dass es ein paar Gesellschaftsladys gab, die sie für eine Hure und eine Diebin hielten, das wäre kaum höflich. Ausnahmsweise fehlten ihm die Worte, aber sie rettete ihn, indem sie nicht auf eine Antwort wartete. »Vielleicht sollten wir hineingehen«, sagte sie, »statt auf der Straße zu reden.«
»Sicher«, stimmte er ihr zu. »Danke.«
Sie schob ihn ins Wohnzimmer, wo er vor ein paar Tagen schon mit Dr. Crippen gesprochen hatte. Er wartete, bis sie sich setzte, bevor auch er seinen alten Platz wieder einnahm.
»Sie müssen meinen Aufzug entschuldigen«, sagte sie, sah an ihren Männerkleidern hinunter und war sich des Schmutzes und Schweißes in ihrem Gesicht mehr als bewusst. »Ich wollte etwas sauber machen und habe mir ein paar von Hawleys alten Sachen ausgeliehen. Ich muss entsetzlich aussehen.«
»Ganz und gar nicht, Miss LeNeve«, sagte Dew. »Im Gegenteil. Arbeit hat noch niemanden schlimm aussehen lassen.«
Sie lächelte, seine Art nahm ihr ihre Befangenheit. »Hawley hat mir erzählt, dass Sie ihn besucht haben«, sagte sie nach kurzem Schweigen, bereit, zur Sache zu kommen. »Ich glaube, Sie haben ihn ziemlich beeindruckt.«
Dew war froh, dass er den Grund für seinen Besuch nicht verbergen musste. »Wirklich«, sagte er. »Nun, es freut mich, das zu hören. Ich muss zugeben, dass ich mir in all den Jahren als Polizist nie so dumm vorgekommen bin wie in dem Moment, als ich begriff, was für ein Mann Dr. Crippen ist. Ich musste nur einem Hinweis folgen, verstehen Sie?«
»Sicher. Aber darf ich fragen … Wer hatte denn so eine schreckliche Idee?«
Der Inspector überlegte. Streng genommen, sollte er ihr nichts sagen, aber er hatte bereits die Vorstellung, er und die Crippen-LeNeves würden bald schon Freunde werden. Er musste an sein Telefongespräch mit Mrs Louise Smythson denken, die er kaum ertragen konnte.
»Unschuldig?«, hatte sie entsetzt gerufen, als er ihr erklärt hatte, die Untersuchung gegen Dr. Crippen sei eingestellt worden. »Hawley Crippen unschuldig? Wahrscheinlich nur in einer Sprache, in der ›unschuldig‹ tatsächlich ›schuldig‹ bedeutet. Himmel noch mal, er hat sie umgebracht, Inspector. Die Kehle hat er ihr aufgeschlitzt, von links nach rechts, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich täusche mich nicht.«
»Ich glaube nicht, Mrs Smythson«, antwortete er und versuchte, ruhig zu bleiben und gleichzeitig das Lachen über ihre ausschweifende Fantasie zu unterdrücken. »Ich habe mit Dr. Crippen gesprochen, und er hat mir versichert …«
»Oh, bitte«, unterbrach sie ihn. »Er hat Ihnen versichert, dass er es nicht getan hat, und damit ist die Sache erledigt? Sagen Sie mir, Inspector, wenn Sie jemals Jack the Ripper dabei erwischen sollten, wie er eine Hure aufschlitzt, und von seinen Händen tropft das Blut, und er sagt: ›Ehrlich, das war ich nicht‹, lassen Sie ihn dann auch laufen? Ist das die Art, wie heute bei Scotland Yard gearbeitet wird? Meine Güte! Vielleicht
ist
er ja Jack the Ripper!«
»Mrs Smythson, wir haben strenge Richtlinien, nach denen wir unsere Untersuchungen durchführen«, sagte Dew. »Unglücklicherweise kann ich Ihnen die im Moment nicht im Einzelnen darlegen, seien Sie jedoch versichert, dass ich mit Dr. Crippen gesprochen und einige Dinge erfahren habe, von denen Sie womöglich nichts wissen. Ich informiere Sie nur, dass er sich keiner Anklage stellen muss. Im Übrigen denke ich, dass Sie Ihrer Vorstellungskraft vielleicht ein wenig zu sehr die Zügel schießen lassen, was, das versichere ich Ihnen, durchaus gefährlich sein kann.«
»Inspector, schon als ich den Mann das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass an ihm etwas faul ist. Es steht in seinen Augen! So wie er Sie ansieht? Ihm ist eindeutig nicht zu trauen.«
»Wenn Sie dennoch …«
»Ha!«, sagte sie verzweifelt und äußerst enttäuscht, dass diese Geschichte kein grausigeres Ende finden sollte.
»Wenn Sie dennoch mehr erfahren wollen, Mrs Smythson, würde ich vorschlagen, Sie sprechen mit Dr. Crippen selbst und wenden sich nicht wieder an die Polizei.«
»Das würde ich niemals wagen«, sagte sie geringschätzig. »Wenn er erfährt, dass ich bei Ihnen war, lauert er mir wahrscheinlich mit einem Brotmesser auf. Himmel!«, rief sie bestürzt. »Sie haben ihm doch nichts erzählt? Sie haben ihm doch nicht
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