Der freundliche Mr Crippen | Roman
Zeit selbst davon überzeugt hatte, dass es wohl doch so war. Wenn er sich nur genug anstrengte, konnte er sich sogar an einzelne Szenen dieses Tages erinnern: Wie er sein Zeugnis abgeholt hatte. Wie er dem Rektor der Universität die Hand geschüttelt hatte. Das alles existierte in seiner Vorstellung und gab vor, die Wirklichkeit zu sein.) »Wir haben seit Jahren nicht miteinander gesprochen.«
»Das sollten Sie nicht zulassen«, sagte Dew. »Ich meine, ich nehme es meiner Mutter immer noch übel, dass sie mir so viele Hindernisse in den Weg gelegt hat, aber bei Gott, ohne sie wollte ich auch nicht sein.«
»Sie lebt also noch?«
»O ja. Sie ist vierundachtzig und hat die Konstitution eines Ochsen. Ich gehe einmal in der Woche abends zum Essen zu ihr, und sie tut immer noch so, als könnte sie mich übers Knie legen, wenn ich mein Gemüse nicht esse.« Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich mochte Gemüse noch nie. Trotzdem würde ich sie mir nicht anders wünschen.«
»Ich glaube, meine ist immer noch in Michigan«, sagte Hawley, den die Erinnerung wenig rührte. »Wenigstens habe ich nichts Gegenteiliges gehört.«
»Interessiert Sie denn nicht, wo sie ist und wie es ihr geht? Wollen Sie nicht den Kontakt halten?«
»Es scheint mir so, Inspector, dass mich die meisten Menschen, denen ich in meinem Leben vertraut habe, am Ende im Stich gelassen haben. Besonders die Frauen. Wenn ich Ihnen gegenüber ehrlich sein soll, nehme ich an, dass diese Menschen und einige Vorfälle im Zusammenhang mit ihnen meinen Charakter geformt haben, und auf den bin ich nicht immer stolz.«
Dew runzelte die Stirn, das klang ungewöhnlich. »Warum?«, fragte er.
»Ich glaube, ich bin ein schwacher Mann«, gab Hawley zu und wunderte sich, dass er so offen mit dem Inspector sprechen konnte, doch er spürte in ihm eine verwandte Seele. »Ich habe Probleme, mich in schwierigen Situationen zu behaupten. Meine erste Frau war ein guter Mensch, aber lebte sie noch …«
»Ihre
erste
Frau?«, fragte Dew überrascht. »Ich wusste nicht, dass Sie schon einmal verheiratet waren.«
»O ja. Drüben in Amerika. Vor vielen Jahren, als ich noch ein junger Mann war. Charlotte Bell hieß sie. Ein hübsches Mädchen und ein wirklich angenehmer Mensch. Wir waren erst ein paar Jahre verheiratet, als sie mir genommen wurde. Ein Verkehrsunfall. Es war eine ziemlich tragische Geschichte.«
»Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Es ist so lange her, und ich hab vor langer Zeit schon meinen Frieden damit gemacht. Ich komme auch nur auf sie, um zu sagen, dass sie mich, hätte sie länger gelebt, wahrscheinlich sehr dominiert hätte. Sie war ganz anders als Cora, aber auch sie hätte gewisse … Forderungen an mich gestellt, denke ich. Ich weiß nicht, was am Ende aus uns geworden wäre. Ich habe oft schon gedacht, dass es sicher schlecht ausgegangen wäre.«
»Wie zwischen Ihnen und Cora?«
»In der Tat«, sagte Hawley, nahm einen letzten Bissen und schob den Teller von sich. »Obwohl ich es natürlich hätte erwarten sollen. Darf ich Ihnen etwas sagen, Inspector? Etwas, das unter uns bleibt?«
Dew nickte. Er vergaß einen Moment lang, dass er Dr. Crippen ursprünglich aus beruflichem Anlass aufgesucht hatte, und hatte das Gefühl, dass sie in der Kürze der Zeit fast so etwas wie Freunde geworden waren. »Natürlich, Hawley«, sagte er und sprach sein Gegenüber zum ersten Mal mit dem Vornamen an. »Sie können mir völlig vertrauen.«
»Dieser Amerikaner, mit dem sie davongelaufen ist«, sagte er, »der war nicht der Erste, verstehen Sie? Ich weiß wenigstens von drei weiteren Männern, mit denen Cora eine Affäre hatte. Mit einem italienischen Musiklehrer, einem Schauspieler, den sie auf einer Party kennengelernt hatte, und einem zwanzigjährigen Jungen, der eine Weile bei uns zur Untermiete wohnte. Und ich bin sicher, es gab noch mehr. Sie war viel unterwegs. Sie arbeitete in der Music Hall, wissen Sie.«
»Ja, das sagten Sie.«
»Ich glaube, sie hat sich Bella Elmore genannt, weil ihr Cora Crippen nicht gut genug war. Der Name musste besonders klingen. Sie wollte immer jemand sein, der sie nicht war. Das war ihr Problem, wissen Sie. Sie konnte es nicht ertragen, auch nur einen Moment zu denken, dass sie ein normales, gewöhnliches menschliches Wesen war. Ohne Extras. Ohne Verzierungen. Nichts Besonderes. Einfach nur ein normaler Mensch, dessen Träume zerschellen und in die Gosse getreten werden, wie bei allen anderen auch.«
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