Der freundliche Mr Crippen | Roman
nach oben, um sich umzuziehen.
Keine fünf Minuten später hörte sie, wie sich unten die Tür öffnete, und trat auf den Treppenabsatz hinaus. »Hawley«, sagte sie, voller Freude, ihn zu sehen. »Du hast unseren Besucher verpasst.«
»Ach ja? Wen?«, fragte er.
»Inspector Dew von Scotland Yard. So ein netter Mann.«
»Ach ja?«
»Er sagte, du wolltest ihm noch etwas geben.«
»Das stimmt«, sagte er. »Das habe ich ihm gesagt.«
»Er sagt, er kommt am Mittwochabend. Um acht. Er würde dann gerne mit dir sprechen.«
Hawley nickte, ging ins Wohnzimmer und setzte sich in seinen Sessel. Er zitterte. Ihm war kalt, denn er hatte die letzte Viertelstunde hinter einem Baum auf der anderen Straßenseite gestanden, außer Sichtweite von Ethel und Dew, hatte das Fenster beobachtet und darauf gewartet, dass der Inspector ging. Mittwochabend, dachte er, das gibt uns nicht viel Zeit zu verschwinden.
MITTWOCH , 22. JUNI
Der Nachmittag des 22 . Juni 1910 zog sich für Inspector Walter Dew endlos zäh dahin. Er saß in seinem Büro und erwischte sich immer wieder dabei, wie er aus dem Fenster auf den Fluss hinaussah und sich nicht auf seine Arbeit zu konzentrieren vermochte. Drei Aktenmappen lagen vor ihm und wollten bearbeitet werden, und er hatte es mit jeder einzelnen versucht, war aber nicht weitergekommen. In der ersten Mappe ging es um die Frau, die vor einer Woche bei Bow in der Themse treibend gefunden worden war. Die Autopsie deutete darauf hin, dass sie erwürgt und erst danach in den Fluss geworfen worden war, da sie kein Wasser in der Lunge gehabt hatte. Sie war zweiundsechzig Jahre alt gewesen, und er verdächtigte ihren Mann. Bei älteren Frauen war es immer der Mann, der nach Jahren der Nörgelei endlich genug gehabt hatte. Die zweite Mappe enthielt einen Bericht über eine Einbruchserie in Kensington. Die Einbrüche fanden stets spätabends statt, und das Merkwürdige war, dass sich in keinem Fall Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen finden ließen. Im letzten Fall ging es um einen jungen Mann, der von einer eleganten, von einem edlen Pferd gezogenen Kutsche mit dem, wollte man dem Opfer glauben, Wappen des Prinzen von Wales angefahren worden war, die sich schnellstens aus dem Staub gemacht hatte. Dew legte die Mappe ans Ende, denn der Fall war fraglos der schwierigste. All seine diplomatischen Talente würde er dafür aufwenden müssen. Doch im Moment machte das alles nichts, denn er würde gleich schon zu einem weiteren Besuch am Hilldrop Crescent aufbrechen. Er trug seinen besten Anzug und hatte morgens sogar von einem Mädchen auf der Straße eine Blume gekauft, die er sich ins Knopfloch seines Jackenaufschlags zu stecken gedachte, wenn er das Büro verließ. Damit sie frisch blieb, hatte er sie in ein Glas Wasser auf seinem Schreibtisch gestellt, wo sie ziemlich verloren wirkte und sich verzweifelt mühte, einen Anflug von Duft zu bewahren. Er betrachtete sich im Spiegel und war zufrieden mit dem, was er da sah. Er wirkte beschwingt und wach, ein willkommener Tischgenosse, sollte er von den Crippen-LeNeves zum Essen eingeladen werden, worauf er sehnlich hoffte. Hinterher würde er mit Hawley vielleicht noch einen Abstecher in den örtlichen Pub machen, während Ethel das Geschirr spülte. Sie würden über Männerdinge reden, ohne weiter bei den Schwierigkeiten der Vergangenheit zu verweilen, und nach anderen Gemeinsamkeiten suchen, auf die sie ihre Freundschaft gründen konnten. Wieder sah er auf die Uhr. Er wollte nicht zu früh kommen, doch es war jetzt Viertel nach sieben, und wenn er sich Zeit ließ, würde er absolut pünktlich kommen.
»Haben Sie was Nettes vor, Inspector?«, fragte PC Milburn, als Dew durch den Wachraum kam.
»Wie bitte?«, fragte der Inspector schroff, der kaum richtig zugehört hatte.
»Ich fragte, ob Sie etwas Nettes vorhaben«, wiederholte Milburn. »Es ist nur, weil Sie Ihren besten Anzug tragen und auch noch eine Blume im Knopfloch. Normalerweise sehen Sie nicht so gut aus, Sir.«
»Normalerweise sehe ich …?«
»Oh, ich wollte Sie nicht beleidigen, Inspector Dew«, sagte PC Milburn hastig. »Ich meine nur, normalerweise tragen Sie keinen so teuren Anzug. Selbstverständlich sehen Sie immer gut aus.« Er holte tief Luft. »Sie sind ein sehr gut aussehender Mann, Sir, wissen Sie«, fügte er verwirrt hinzu und bereute seine Worte sofort.
»Gehen Sie an Ihre Arbeit, Milburn«, sagte Dew.
»Ja, Sir«, antwortete der Constable und setzte sich wieder.
»Wie
Weitere Kostenlose Bücher