Der freundliche Mr Crippen | Roman
würde.
Kendall stand auf. Er riss sich zusammen, wischte sich über die Augen und zog seine Jacke glatt.
»In Ordnung, Carter«, sagte er, hüstelte und wich dem Blick seines Ersten Offiziers aus. »Gut, gut. Machen Sie weiter. Wenn noch weitere Nachrichten kommen, dürfen Sie sie mir in die Kabine bringen. Sofort.«
»Natürlich, Sir.«
»Sorgen Sie sich nicht wegen der Zeit.«
»Nein, Sir.«
»Ich bleibe lange auf, wissen Sie.«
»Ich verstehe, Sir.«
»Wahrscheinlich lese ich ein Buch«, murmelte Kendall und öffnete die Tür. »Oder schreibe mein Tagebuch. So oder so, ich werde wach sein.«
»Sobald es Neues gibt, komme ich direkt zu Ihnen.«
Kendall nickte und schloss die Tür hinter sich. Sein Erster Offizier lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schüttelte staunend den Kopf. Dann brach er in ein kurzes Lachen aus, fasste sich und schüttelte wieder den Kopf.
Sein Blick blieb an etwas auf dem Sofa hängen, und er sah zur Tür, aber die war längst zu und der Kapitän verschwunden.
»Hier«, sagte er laut in die Leere, »Sie haben Ihre Mütze vergessen.«
»Sie wollten mich sprechen, Kapitän?« Mr John Robinson stand neben der Brücke der
Montrose
und spähte herein, wo ein besorgt aussehender Kapitän Kendall stand und ein Fernglas in Händen hielt. Kendall war mit den Gedanken bei seinem kranken Freund, holte sich aber zurück in die Gegenwart, als er den Mann, den er für den berüchtigten Hawley Harvey Crippen hielt, vor sich stehen sah.
»Sie sprechen?«, fragte er leicht benommen.
»Einer von ihren Männern kam zu meiner Kabine. Er sagte, Sie hätten mir etwas zu sagen.«
»O ja, natürlich«, antwortete der Kapitän und bat ihn herein. »Entschuldigen Sie. Ich habe geträumt.«
Mr Robinson lächelte. Er war ein wenig überrascht gewesen, als der Seemann ihm die Nachricht überbrachte, und hatte sich gleich Sorgen gemacht. Hatten sie die Wahrheit herausgefunden? Wollte der Kapitän ihn mit ihrer Entlarvung konfrontieren? Er zitterte ganz leicht, als der ältere Mann auf ihn zutrat.
»Hallo?« Eine Stimme von hinten ließ beide zusammenfahren, und sie sahen Mrs Drake auf sie zueilen. »Mr Robinson«, sagte sie. »Ich sah Sie hier heraufsteigen und dachte, ich folge Ihnen. Ich hoffe, es stört Sie nicht.« Sie wandte sich dem Kapitän zu, dessen Gesicht ein fahles Lächeln überzog.
»Aber natürlich nicht, Mrs Drake«, sagte Kendall. »Ich hatte Mr Robinson eingeladen, sich die Ruderanlage anzusehen. Ich dachte, das könnte ihn interessieren.«
»Ach, wie reizend«, rief sie.
»Sie dachten, die Anlage könnte
mich
interessieren?«, fragte der Passagier verblüfft.
»Ja. Sie sind doch ein echter Mann, oder? Zeigen Sie mir einen Mann, der sich nicht dafür interessiert, wie Steuerungsanlagen und Maschinen funktionieren, und ich zeige ihnen einen, der gerne die Peitsche spürt, sage ich immer. Nicht, dass wir in der Navy noch Auspeitschungen vornehmen«, fügte er hinzu. »Gott sei’s geklagt.«
»Aber, Kapitän, das ist hier doch sowieso nicht die Navy«, warf Mrs Drake ein. »Wir fahren auf einem zivilen Schiff.«
»Das ist in der Tat so. Wie gut von Ihnen, dass Sie darauf hinweisen, Mrs Drake.«
Kendall hatte mit der Einladung Mr John Robinsons auf die Brücke zwei Absichten verfolgt: Einmal wollte er sich von den Geschehnissen in Antwerpen ablenken, wo, soweit er wusste, Mr Sorenson bereits die Sterbesakramente gespendet bekam und der Bestatter Maß an ihm nahm, um den richtigen Sarg auszuwählen, und dann wollte er die Wahrheit über Mr Robinson beweisen, indem er ihn dazu brachte, sich in seinen Lügen zu verfangen. Seit dem zweiten Funktelegramm von der
Laurentic
war ihm bewusst geworden, dass seine Annahme auf ein paar sehr einfachen Hinweisen basierte, die leicht missinterpretiert werden konnten: die Verkleidung Edmund Robinsons … die leidenschaftliche Umarmung zwischen Vater und Sohn … der Umstand, dass die Beschreibung, die er in der Zeitung gelesen hatte, sehr ungefähr auf Mr Robinson passte. Sollte sich herausstellen, dass er einen Fehler gemacht hatte und es eine unschuldigere Erklärung für das Spiel der Robinsons gab – aber was konnte an so einer Sache unschuldig sein?, fragte er sich –, sollte das
tatsächlich
der Fall sein, wäre er blamiert und würde womöglich von Inspector Dew wegen leichtfertiger Irreführung der Polizei verhaftet. Was, wenn sich der Mann weigerte, ohne einen Verhafteten nach Scotland Yard zurückzukehren?,
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