Der freundliche Mr Crippen | Roman
dachte er. Ohne
irgendeinen
Verhafteten? Er würde niemals zurück nach Antwerpen kommen, wenn das der Fall war. Wie auch immer, jetzt stand er hier, und er würde seine Fragen stellen, auch wenn Mrs Drake dabei war.
»Ist es nicht interessant?«, sagte sie und ließ ihren gierigen Blick über die Anlagen und Kontrollinstrumente gleiten. »Ich weiß nicht, wie Sie das alles im Auge behalten können. So viele Knöpfe, Farben und Hebel. Ich bin sicher, ich würde vergessen, was da alles zu tun ist.«
»Es wird einem zur zweiten Natur«, sagte der Kapitän, griff nach einem Buch über das Schiff, das er auf dem Tisch hatte liegen lassen, stieß einen leisen Schmerzensschrei aus und griff sich an die Schulter.
»Kapitän, ist alles mit Ihnen in Ordnung?«, fragte Mrs Drake.
»Es ist nur meine Schulter«, sagte er. »Eine alte Verletzung. Ich verrenke sie mir immer wieder.«
»Sie sollten sie von einem Arzt behandeln lassen.«
»Wir haben einen Arzt an Bord, aber der scheint nichts daran ändern zu können. Ich habe immer ein, zwei Tage Schmerzen, und dann beruhigt sich die Sache wieder.« Das war natürlich eine Lüge, doch er hoffte darauf, dass Mr Robinson nach den genaueren Symptomen fragen würde, und beobachtete den Mann hoffnungsvoll, wurde aber enttäuscht. Mr Robinson schien mehr daran interessiert, aus dem Fenster zu sehen, als über eine erfundene medizinische Frage zu diskutieren.
»Mögen Sie das Meer, Mr Robinson?«, fragte er nach einer Weile.
»Nicht sehr«, gab der zu.
»Ach, nein? Sind Sie schon mit einem Schiff gereist? Sie kommen aus London, richtig?«
»Ja, das ist richtig.«
»Sind Sie dort geboren?«
»Ja.«
»Und haben Ihr ganzes Leben dort verbracht?«
»Ja.«
»Verstehe«, sagte der Kapitän. Wieder kein Treffer. »Und Ihr Sohn?«, fragte er, wobei er das Wort fast ausspuckte, weil er sich damit an der Maskerade beteiligte. »Ihr Sohn kommt auch aus London?«
Mr Robinson wandte sich dem Kapitän zu, hob eine Braue und musterte den Fragenden. Warum all diese Fragen, überlegte er. Wollte der Kapitän eine Art Geständnis, dass Edmund nicht sein Sohn war? Wollte er darauf hinaus?
»Ich habe das Meer immer gemocht«, ertönte eine Stimme zwischen ihnen. »Mr Drake hat eine Jacht, die in der Nähe von Monaco parkt.«
»Liegt«, sagte Kapitän Kendall.
»Wie bitte?«
»Die Jacht
liegt
in der Nähe von Monaco«, sagte er. »Man parkt ein Automobil oder ein Fahrrad. Aber kein Boot.«
»Ja, sicher«, sagte sie kichernd. »Ich Dummerchen. Aber ich genieße unsere Tage darauf. Genau wie Victoria. Ich finde die Seeluft so erfrischend. Diese langen Reisen können einen allerdings etwas ermüden, wobei ich zugeben muss, es ist komisch, weil ich, so erschöpft ich bin, doch nicht gut schlafen kann. Ist das nicht ungewöhnlich?«
»Nehmen Sie Schlaftabletten?«, fragte der Kapitän.
»Hin und wieder. Aber sie helfen nicht immer. Manchmal wache ich mit ganz schrecklichen Kopfschmerzen auf.«
»Ich selbst ziehe natürlichere Mittel vor«, sagte Kendall und mied dabei bewusst Mr Robinsons Blick. »Pflanzliche Mittel. Fernöstliches. Homöopathisches.«
»Wirklich?«, fragte Mrs Drake, und ihre Mundwinkel gaben Zeugnis von ihrem Widerwillen, so als hätte sie einen Schluck saure Milch genommen. »Wie ungewöhnlich.«
»Sie können sehr hilfreich sein«, schaltete sich Mr Robinson in die Diskussion ein, ohne zu erkennen, dass Kendalls Einwurf bewusst auf ihn ausgerichtet gewesen war, »und sie werden immer beliebter. Nicht alles muss mit schweren Medikamenten und Elixieren behandelt werden.«
»Interessieren Sie sich für Homöopathie, Mr Robinson?«, fragte Kendall.
»Ein wenig.«
»Wissen Sie viel darüber?«
»Ein wenig.«
»Haben Sie je Homöopathisches probiert?«
»Ein wenig.«
Kendall ballte wütend die Fäuste. Dieser Mann war entweder schlau wie ein Fuchs oder unschuldig wie ein Lamm. Er vermochte ihn nicht zu durchschauen.
»Kapitän, liegen wir im Zeitplan? Was würden Sie sagen?«, fragte Mrs Drake. »Werden wir Kanada zum Ende des Monats erreichen?«
»O ja, damit rechne ich fest«, sagte er. »Ich bin noch nie in meinem Leben zu früh oder zu spät in einen Zielhafen eingelaufen und habe nicht vor, auf dieser Reise etwas anderes zu tun. Ganz gleich, was geschieht.«
»Ganz gleich, was geschieht? Warum, womit rechnen Sie denn?«
»Mit gar nichts. Ich meinte nur, dass man immer auf jede Eventualität gefasst ist und bereit, damit
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