Der freundliche Mr Crippen | Roman
gestern den Leserbrief in der
Times
gesehen, Andrew?«, fragte Nicholas lachend und sah seinen Freund an. »Da hat doch einer geschrieben, es würde langsam Zeit, dass wir die Ladys zum Polizeidienst zulassen, und wo wir schon dabei seien, warum machten wir Louise Smythson nicht zu einem Inspector von Scotland Yard! Wie es scheine, könne sie denen, die es bereits gäbe, mehr als nur das Wasser reichen.« Er verschluckte sich vor Lachen, so absurd schien ihm die Idee.
»Ich würde sagen, das klingt sehr gut«, sagte Margaret Nash. »Inspector Smythson. Kannst du dir das vorstellen, Louise?«
»Was? Um in London herumzustreifen und in Kellern kopflose Leichen zu finden?«, fragte Louise erschaudernd. »Ich glaube nicht.« Tatsächlich war sie äußerst stolz auf sich und genoss die öffentliche Aufmerksamkeit und das Rampenlicht, in dem sie stand, über alles. Sie wurde als Heldin gefeiert, vom Besitzer des örtlichen Lebensmittelladens genauso wie von der Prinzessin von Wales, die sie in einem vertraulichen Gespräch gepriesen hatte, was von der entsprechenden Zeitung pflichtgemäß berichtet worden war.
»Trotzdem kam er mir wie ein sehr angenehmer, umgänglicher Mensch vor«, sagte Inspector Dew.
»Angenehm?«, fragte Kapitän Taylor ungläubig. »Ein Mann, der seine Frau in kleine Stücke schneidet und isst? Was würden Sie dann um Himmel willen grob nennen?«
»Nun, ich wusste ja nicht, dass er das getan hatte, oder?«, antwortete Dew. »Er wirkte ziemlich umgänglich. Und
gegessen
hat er sie auch nicht.«
»Man muss immer auf die Ruhigen achten.«
»Das ist eigentlich nicht so«, sagte Dew. »Es ist nicht leicht für einen Mann, seinen Charakter so zu verstecken. Ich denke, er ist eines Abends einfach durchgedreht, weil er genug von ihrer brutalen Art hatte.«
»Wenn er einfach nur durchgedreht wäre, Inspector, hätte er sich kaum vorher das Gift besorgt, oder? Riecht das nicht nach Vorsatz? Ich meine, so steht es in den Zeitungen. Dass er in einer Apotheke in der Oxford Street vorher eine Flasche Hydro-Soundso gekauft hat.«
»Sicher, sicher«, gab Dew zu. »Ich denke nur, sie hat es übertrieben, das ist alles. Er sah keinen Ausweg mehr. Und es war Hyoscin-Hydrobromid, eines der wirksamsten und schnellsten Gifte überhaupt.«
»Sie klingen fast so, als hätten Sie Verständnis für ihn.«
»Tatsächlich?«, fragte der Inspector überrascht. »Nein, das habe ich nicht, wirklich nicht. Es war eine schreckliche Tat. Trotzdem muss ich mich fragen, was ihm heute durch den Kopf geht. Ob er es bereut? Ob er keinen Schlaf findet? Es kann nicht leicht sein, so etwas zu tun und anschließend zu vergessen. Jemanden umzubringen und dann so beiseitezuschaffen. Schrecklich.«
Dew selbst hatte während der letzten Wochen an nichts anderes denken können. Nach der Entdeckung von Coras Überresten konnte er, erfüllt von Selbstzweifeln und Elend, tagelang nicht schlafen. Die Zweifel rührten aus der Erkenntnis, dass er vielleicht doch nicht so ein guter Spürhund war, wie er gedacht hatte. Nie in seiner gesamten Laufbahn hatte er sich so von jemandem düpiert gefühlt, so hinters Licht geführt. Elend fühlte er sich aber vor allem, weil er wusste, dass Dr. Crippen diese schreckliche Tat begangen hatte. Er versuchte zu glauben, dass es nicht so war, dass alles nur ein Irrtum war, doch die Wahrheit ließ sich nicht verleugnen. Dieser Mann, dessen Freundschaft er für sich erhofft, mit dem er sich menschlich so eng verbunden gefühlt hatte, befand sich jetzt mitten auf dem Atlantik und wusste nicht, dass jemand, der ihn bis vor Kurzem noch respektiert hatte, nicht mehr weit hinter ihm war, ihn jagte und sich nichts mehr wünschte, als ihn zurück nach London zu bringen und ihn dort am Seil des Henkers baumeln zu sehen.
»Ich glaube«, sagte Margaret Nash und schluckte das letzte Stückchen Gebäck hinunter, »die einzigen Menschen auf der Welt, die im Moment nicht über den berüchtigten Dr. Crippen reden, sind die, die ihm am nächsten sind, und
die
bedauere ich. Die Erste-Klasse-Passagiere an Bord der
Montrose.
Gott allein weiß, wann er das nächste Mal zuschlägt. Der Mann hat Blut geleckt und wird niemals aufgeben«, fügte sie noch dramatisch hinzu, mit loderndem Blick. Ein wenig Speichel hing an ihren scharlachroten Lippen.
Beide Nachrichten kamen innerhalb von fünfzehn Minuten über den Marconi-Telegrafen. Seit dem Nachmittag vor ein paar Tagen, seit Kapitän Kendall ihn mit in den Funkraum
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