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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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bewusst gewesen, dass auch sie beschattet wurde. Tom DuMarqué, der seit Tagen zum ersten Mal wieder gebadet hatte, beobachtete sie aus der Ferne und fragte sich, was ihr seltsames Verhalten sollte. Sie hatte sich eine Flasche und zwei Gläser besorgt, und jetzt stand sie da im Halbschatten und schien etwas oder jemanden im Blick zu haben und zunächst noch abzuwarten. Oh, wie er sich wünschte, dass sie sich die Flasche mit ihm teilen würde. Als sie sich endlich wieder in Bewegung setzte, folgte er ihr, hielt sich aber auf der anderen Seite der Rettungsboote, und als sie sich setzte und mit dem Rücken gegen eins davon lehnte, ließ er sich auf der anderen Seite nieder und lauschte auf jedes einzelne Wort, das sie sagte. Es empörte ihn, zu wem sie gegangen war, und er hatte Mühe, sich davon abzuhalten, um die Boote herumzugehen und die kleine Party für beendet zu erklären. Seine Hand glitt in die Hosentasche, in der er sein Taschenmesser hatte. Er fuhr mit den Fingerspitzen darüber; es zu fühlen, erleichterte ihn. Wenn Edmund Robinson heimlich etwas versuchte, würde er seinen Schürzenjägerallüren ein für alle Mal ein Ende setzen. Er hatte den Kerl gewarnt.
    »Ich glaube, ich sollte mich bei dir entschuldigen«, sagte Victoria und musste innerlich würgen, als ihr das Wort über die Lippen kam.
    »Dich entschuldigen? Wofür?«
    »Meinen lästigen Verführungsversuch in unserer Kabine kürzlich. Ich weiß nicht, was da mit mir war.«
    »Ach, Victoria, denk doch nicht mehr darüber nach.«
    »Ich dachte, du wolltest dich zieren, verstehst du?«
    »Nein.«
    »Das ist eine Taktik, die ich noch nicht oft erlebt habe.«
    »Natürlich nicht.«
    »Die Sache ist die, dass ich es nicht gewohnt bin, zurückgewiesen zu werden.«
    Edmund sah sie an. Im Mondlicht wirkte ihre blasse Schönheit weit verletzlicher, besonders angesichts dessen, was sie gerade gesagt hatte. »Das hätte ich auch nicht vermutet«, sagte er. »Du bist zu schön, als dass dich jemand zurückweisen würde.«
    »Und doch hast du es getan.«
    Er seufzte. »Wenn du es nicht gewohnt bist, zurückgewiesen zu werden«, erklärte er ihr, »dann lass dir von mir sagen, dass ich es nicht gewohnt bin, dass sich mir schöne Mädchen an den Hals werfen.«
    »Das kann ich jetzt wieder kaum glauben«, sagte sie lachend.
    »Aber es ist so.«
    »Du unterschätzt dich, Edmund. Ich habe mich vom allerersten Moment an zu dir hingezogen gefühlt.«
    »Ehrlich?« Es erstaunte ihn, das zu hören, doch es machte ihn auch neugierig. »Darf ich fragen, warum?«
    »Du hörst wohl gerne Komplimente, was?«
    »Nein«, sagte er verlegen. »Nein, ich meinte nur …«
    »Ist schon gut. Ich mache nur Spaß. Aber da du schon fragst: Du hast einen gefühlvollen Ausdruck, der bei Jungs eher selten ist. Deine Haut ist so glatt und dein Knochenbau … Jetzt hör dir mich nur an«, sagte sie und lief in der Dunkelheit rot an, voller Staunen darüber, dass sie ihre Rolle so gut zu spielen verstand. »Ich klinge wie ein Liebesroman.«
    »Du überraschst mich«, sagte er. »Und es überrascht mich, dass ich mich so geschmeichelt fühle.«
    »Du hast doch sicher irgendwo eine Freundin, oder?«
    »Ich?«, fragte er und schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Aber du musst doch mal eine gehabt haben. Du kannst nicht … Ich meine, du bist doch sicher nicht … Du hast doch bestimmt schon mal irgendwann eine Freundin gehabt.«
    »Ich war verliebt, wenn du das meinst«, gab er zu. »Ein Mal. Ich hatte wirklich Glück, ich habe jemand ganz Besonderes kennengelernt, jemanden … nun, diese Person war gerade ziemlich verletzt worden, und ich habe ihr geholfen, weil ich Gefühle in mir fand, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren. Ich wusste nicht, was man aus Liebe alles tun kann.«
    »Was ist mit ihr?«, fragte Victoria. »Sie ist doch nicht gestorben, oder?«
    »Nein«, sagte er lächelnd. »Nein, nichts dergleichen. Sagen wir einfach, wir haben große Hoffnungen auf die Zukunft.«
    Victoria nickte. Edmund verwirrte sie immer noch, aber seine Nähe hier auf Deck brachte ihre Haut zum Kribbeln.
    »Der Champagner steigt mir langsam zu Kopf«, sagte er und schenkte ihnen das vierte Glas ein. »Ich bin bald betrunken.«
    »Wir haben noch die halbe Flasche vor uns«, sagte sie mit einem Lächeln, zufrieden damit, dass ihr Plan Früchte zu tragen schien. Ihn betrunken zu machen, um ihn verführen zu können, war ein billiger Trick, aber das war es wert. Wenn es erst einmal geschehen war,

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