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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Morgen, kurz bevor sie es tut, bitte ich Kapitän Kendall, sein Schiff zu stoppen, und gehe an Bord. Ich verhafte Crippen, wir legen an, und ich nehme das Schiff am 3 . August und bringe ihn zurück nach England.«
    Taylor nickte. »Ich telegrafiere es ihm«, sagte er. »Wenn es erlaubt ist.«
    »In der Tat. In der Tat. Aber wiederholen Sie noch einmal, dass bis zum allerletzten Moment niemand etwas erfahren darf. Dr. Crippen mag zu allem Möglichen fähig sein, und ich will nicht, dass er plötzlich verschwindet oder Geiseln nimmt, bevor ich ihn erreichen kann. Das Letzte, was ich brauche, ist noch eine Leiche.«
    Taylor nickte und schaltete den Telegrafen ein.
     
    Abends schallte laute Musik vom Zwischendeck der
Montrose,
während im Speisesaal der ersten Klasse elegantes Geigenspiel erklang. An den meisten Abenden hätte Ethel das Zwischendeck vorgezogen, um zu sehen, wie sich die billiger reisenden Passagiere unterhielten. Es schien dort weit kurzweiliger zuzugehen als in der gestelzten Atmosphäre der ersten Klasse. Victoria Drake dagegen war sich allenfalls vage bewusst, dass es im unteren Teil des Schiffes auch noch Menschen gab. Natürlich hatte sie schon von den Armen gehört, und sie war sicher, dass es bei ihnen äußerst unangenehm war, aber das alles hatte doch kaum etwas mit ihr zu tun, oder?
    Es war elf Uhr, und Mr Robinson hatte sich in seine Kabine zurückgezogen, um sich der Lektüre eines erbaulichen Buches zu widmen. Mrs Drake war schlafen gegangen, sie hatte über Kopfschmerzen geklagt und auch über Übelkeit, nachdem Matthieu Zéla sie einmal zu oft auf der Tanzfläche im Kreis gedreht hatte. Das hatte er bewusst getan, um sie für den Rest des Abends loszuwerden und sich in Ruhe mit Miss Hayes unterhalten zu können, ohne dabei ständig beobachtet zu werden oder am Ende des Abends erleben zu müssen, wie ihre Verlobung verkündet wurde.
    Ethel war es allmählich leid, die Rolle von Edmund zu spielen. Sie hatte ein paar Abende zuvor eine ruhige Stelle gefunden, wo sie allein sitzen und die Sterne beobachten konnte. Auch jetzt saß sie dort, als junger Mann gekleidet, lehnte mit dem Rücken an einem Rettungsboot, streckte die Beine von sich und genoss das Geräusch der gegen den Rumpf des Schiffes schlagenden Wellen. Sie dachte an Hawley Crippen, nicht John Robinson, schüttelte den Kopf und sah sich mit einem kleinen Lachen die Kleider an, die sie aus Liebe tragen musste. Es hatte sie immer schockiert zu sehen, wie so ein guter Mensch so gefühllos und mit so viel Verachtung behandelt wurde, und das von einer Frau, die ihm in keiner Hinsicht das Wasser reichen konnte und so gar nicht zu seiner Ehefrau taugte. Sie fragte sich, wie Cora Hawley dazu gebracht hatte, sie zu heiraten. Aber jetzt ist sie weg, dachte Ethel mit einem Lächeln.
    Victoria Drake hatte beschlossen, an diesem Abend endlich Edmunds Ablehnung zu überwinden oder bei dem Versuch unterzugehen. Sie kamen Kanada näher und näher, und es wäre unerhört, dort anzukommen, ohne Edmund erobert zu haben, nachdem sie sich ihm praktisch an den Hals geworfen hatte und jedes Mal aufs Neue zurückgewiesen worden war. So etwas war ihr noch nie passiert, und sie wollte verflucht sein, wenn sie es zuließe. Wenn erst einer damit durchkam, gelang es auch anderen. Was, wenn Edmund davon erzählte? Dann läge ihr Ruf in Scherben. Und sie bekäme womöglich nie wieder die Oberhand.
    Vor dem Zubettgehen am Abend zuvor hatte sie Edmund in seinem Versteck bei den Rettungsbooten gesehen und den Tag damit verbracht, ihr Vorgehen zu planen. Sie würde eine völlig neue Taktik anwenden und ihn dadurch für sich gewinnen, indem sie ihr wahres Ich verleugnete und ihm all das vorspielte, was ein gefühlvoller Junge wie er sich ihrer Einschätzung nach von einem Mädchen wünschte. Kurz, sie würde nett zu ihm sein. Der Gedanke widerte sie an, aber was blieb ihr übrig?
    Vorsichtig ging sie zu ihm, behutsam einen Fuß vor den anderen setzend, denn sie wollte nicht, dass die Gläser gegeneinanderstießen. Erst als sie praktisch neben ihm stand, sah er aus seiner Träumerei gerissen auf und starrte sie an.
    »Victoria«, sagte er. »Du hast mich erschreckt.«
    »Entschuldige«, sagte sie. »Ich habe deinen Namen gerufen, aber du hast mich nicht gehört.« Eine Lüge.
    Er sah die Flasche und die Gläser in ihren Händen und seufzte. Sie hatte doch nicht schon wieder vor, ein romantisches Stelldichein mit ihm zu inszenieren?
    »Ich störe dich doch

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