Der freundliche Mr Crippen | Roman
nicht?«, fragte sie sanft.
»Nein«, antwortete er ohne große Begeisterung, aber doch gewillt, die allgemeinen Umgangsformen zu wahren. »Nein, setz dich ruhig. Wie ich sehe, hast du etwas zu trinken mitgebracht.«
Sie lachte. »Das war mal wieder so ein Tag«, sagte sie, »und ich hatte Lust auf etwas Champagner, ganz für mich, ohne sonst jemanden. Eigentlich wollte ich mich hier etwas verstecken und hatte nicht damit gerechnet, dass schon jemand da ist.«
»Aber du hast zwei Gläser dabei.«
»Ich habe dem Steward gesagt, der Champagner sei für meine Mutter und mich, sonst hätte er ihn mir vielleicht nicht gegeben. Aber nimm«, sagte sie und gab ihm eines der Gläser, »wo ich schon mal zwei habe.«
Edmund überlegte einen Moment lang, lächelte schließlich und nahm das Glas. Die Flasche, die sie dabeihatte, war riesig, eine veritable Magnum-Flasche. »Wenn du Champagner willst, machst du keine halben Sachen, wie?«, sagte er. »Wolltest du die ganz alleine austrinken?«
Sie zuckte mit den Schultern und sah aufs schwarze Meer hinaus. Die Wellen glitzerten im Mondlicht. »Ich dachte, ich trinke ein Glas«, sagte sie, »und dann vielleicht noch eins. Und wenn mir danach wäre, noch eins, und dann würde ich schon sehen, wie es sich entwickelt.«
Edmund lachte. »Dann lass uns anfangen«, sagte er, nahm die Flasche, ließ den Korken knallen und hielt sie ein Stück von sich weg, während etwas Schaum aus dem Hals quoll.
Victoria liebte Champagner. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr war das ihr Lieblingsgetränk. Edmund füllte die beiden Gläser und stellte die schwere Flasche hinter sich in eine Lücke zwischen zwei Stützen, wo sie nicht umfallen konnte.
»Prost«, sagte er und stieß mit ihr an.
»Prost«, sagte Victoria. »Auf Kanada.«
»Auf Kanada.«
Schweigend sahen sie eine Weile aufs Wasser hinaus und lauschten dem melodischen Rhythmus, mit dem es gegen das Schiff schlug. Edmund gefiel es, dass Victoria endlich einmal in ruhigerer Verfassung war. Es sah nicht so aus, als wollte sie aufs Neue versuchen, ihn zu verführen, und so entspannte er sich und genoss den Champagner umso mehr.
»Wenn du an dieser Reise etwas verändern könntest«, fragte sie schließlich, »was wäre es?«
Edmund dachte darüber nach. »Es mag komisch klingen«, sagte er, »aber ich glaube, ich würde einen anderen Kapitän wollen.«
»Einen anderen Kapitän?«, fragte sie überrascht. »Warum denn das?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Der Mann hat etwas an sich, dem ich nicht traue. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, scheint er dazustehen und mich zu beobachten. Ich komme aus unserer Kabine, und er drückt sich draußen herum. Ich sitze im Speisesaal, und er lässt sich ganz in der Nähe nieder. Ich spaziere übers Deck und sehe zur Brücke hinauf, und da steht er, und sein Fernglas deutet in meine Richtung. Er wendet sich natürlich gleich ab, aber ich finde es trotzdem verunsichernd.«
Victoria zog die Brauen hoch und wischte sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Er ist mir bisher kaum aufgefallen«, sagte sie. »Obwohl ich ihn einmal draußen auf dem Gang vor unseren Kabinen gesehen habe, wo er sich äußerst komisch verhielt.«
»Wahrscheinlich leide ich nur unter Verfolgungswahn«, sagte Edmund. »Was ist mit dir? Was würdest du ändern?«
»Das ist leicht zu beantworten«, sagte sie. »Ich hätte gern eine eigene Kabine. Glaub mir, du weißt nicht, was schlaflose Nächte sind, bevor du nicht meine Mutter hast schnarchen hören.«
Edmund lachte. »Das ist ein Vergnügen, auf das ich gerne verzichte«, sagte er.
»Ehrlich, ich wollte ja eine getrennte Kabine, aber sie sagte, die sei zu teuer. Was ein Witz ist, weil sie wollte, dass mein Vater die Präsidentensuite für uns bucht, und die ist ungefähr doppelt so teuer wie unsere. Aber er wollte nicht, weil
er
sagte,
die
sei zu teuer. Ich stamme aus einer Familie voller Geizkragen, Edmund.«
Sie tranken ihren Champagner, und Edmund fühlte zum ersten Mal eine gewisse Nähe zu Victoria. Er füllte ihre Gläser auf und dachte, dass sie vielleicht gar kein übles Mädchen war, nur ein bisschen zu sehr darauf bedacht, den eigenen Kopf durchzusetzen. War er da anders? Wahrscheinlich nicht. Wenn er überlegte, was er in letzter Zeit alles getan hatte, stellte er Victoria fraglos in den Schatten.
Als Victoria früher am Abend Edmund hinterherspioniert und auf den richtigen Moment gewartet hatte, um in Erscheinung zu treten, war ihr nicht
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