Der freundliche Mr Crippen | Roman
Hilldrop Crescent hatte dem Vermieter Mr Micklefield gehört, und Hawley Crippen war noch nie sehr an materiellen Besitztümern gelegen gewesen. Ethel hatte ebenfalls beschlossen, den Großteil ihrer Sachen zurückzulassen. Als sie darüber nachdachte, war ihr bewusst geworden, dass fast alles, was sie besaß, von ihren Eltern stammte, und sie bisher aus einer merkwürdigen Sentimentalität daran festgehalten hatte. Alles, was sie wirklich brauchten, waren Kleidung und Geld, und von Letzterem hatten sie glücklicherweise genug. Hawley hatte über die Jahre eisern gespart und einen großen Teil seines Geldes vor Cora versteckt, und auch Ethel hatte gespart und ihr Erbe nicht angerührt. Es bestand keine Frage, dass sie sich in Kanada ein hübsches Haus kaufen und ihr neues Leben in aller Behaglichkeit beginnen konnten.
»Ich kann kaum glauben, dass wir fast da sind«, sagte Ethel und sah auf die Uhr, während sie einen der Koffer verschloss. »Es kommt mir vor, als hätte diese Reise ewig gedauert.«
»Gott sei Dank werden wir nach dem heutigen Tag keinen dieser Menschen je wiedersehen müssen«, sagte Hawley. Er war Ethel den ganzen Morgen über etwas abwesend vorgekommen, so als sei er mit seinen Gedanken ganz woanders.
»Und ich kann wieder eine Frau werden«, sagte sie. »Es war wirklich ganz unterhaltsam, so zu tun, als wäre ich ein Junge, aber jetzt habe ich genug davon. Ich glaube, ich werde meine Befreiung damit feiern, dass ich mir in Quebec ein paar neue Kleider kaufe.«
»Wir werden dort glücklich sein, oder?«, fragte er. »Ich kann dir vertrauen?«
»Natürlich kannst du das, Hawley. Warum stellst du nur so eine Frage?«
Er sah sie an und begriff, dass der Augenblick endlich gekommen war. All die Zeit hatte er gewartet und gebetet, dass sie ihm die Wahrheit sagte, doch seine Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Er liebte sie so sehr und musste Klarheit schaffen, bevor sie kanadischen Boden betraten. Lange hatte er überlegt, ob es lohnte, diese Büchse der Pandora zu öffnen, schließlich bestand die Möglichkeit, dass das, was sie freigab, irgendwann einmal zwischen sie trat. Aber war es besser, so zu tun, als kenne er die Wahrheit nicht?
»Wir müssen ehrlich miteinander sein, Ethel«, sagte er. »Das verstehst du doch? Von dem Moment an, da wir festes Land betreten, dürfen wir einander nie wieder belügen. Nur so kann unsere Beziehung überleben, und alles, was in der Vergangenheit war, nun, das
ist
jetzt Vergangenheit. Wir müssen nach dem heutigen Tag nicht wieder darauf zurückkommen. Aber wenn es vorher noch etwas gibt, was du mir erzählen willst, ist das jetzt der richtige Zeitpunkt.«
Sie sah ihn verblüfft an und zog die Nase kraus, so unverständlich erschienen ihr seine Worte. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte. »Ich weiß nicht, wovon du redest, Hawley«, sagte sie. »Ich habe keine Geheimnisse vor dir.«
»Ich auch nicht vor dir, Ethel, und ich glaube, ich kenne alle deine Geheimnisse. Aber ich würde sie dennoch gern von deinen Lippen hören.«
Sie erschauderte. »Du machst mir Angst, Hawley«, sagte sie und konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Was ist mit dir? Bist du krank?«
»Nein, es geht mir gut«, sagte er, lächelte und legte die Arme um sie. »Denke nur immer daran, dass ich weiß, du liebst mich, und dass ich dich auch liebe und nichts uns trennen kann. Du hast so viel für mich getan. Wenn es sein müsste, würde ich mein Leben für deines geben.«
»Uns wird nichts trennen, Hawley«, sagte sie verwirrt.
Er legte die Arme fester um sie und drückte sie an sich, neigte den Kopf und hielt sie mit solcher Kraft, dass sie kaum mehr atmen konnte. Er drückte die Lippen auf ihr Ohr und flüsterte klar und schnell:
»Ich weiß, was du getan hast, Ethel. Ich weiß, was du mit Cora gemacht hast.«
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was er da sagte, und sie riss die Augen weit auf, kämpfte gegen seine Umarmung an und versuchte, sich von ihm frei zu machen, aber er ließ sie nicht los. Sie konnte es nicht glauben und hatte fast Angst vor ihm, ganz so, als wäre er der Mörder von Cora Crippen und nicht sie, und bereitete sich gerade darauf vor, seiner Tat ein zweites Opfer hinzuzufügen.
»Hawley«, sagte sie, den Mund gegen seine Brust gedrückt. »Hawley, lass mich los.«
Endlich kam sie frei und stolperte rückwärts durch die Kabine. Sie war blass, ihr Haar rutschte unter Edmunds Perücke hervor, und sie schaffte es kaum, ihm ins Gesicht zu
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