Der freundliche Mr Crippen | Roman
erlaubt sein müsse, zu heiraten, wen immer er wollte, selbst ein billiges Flittchen ohne Stand und Erziehung –, war es doch Louises innigster Wunsch, der ehrenwerte Martin Smythson möge das Zeitliche segnen. Es war bekannt, dass er an allen möglichen Gebrechen litt, einschließlich eines verschobenen Wirbels, einer nicht funktionierenden Niere, eines arthritischen Knies und regelmäßigen Herzflimmerns, und dass er sein ganzes Leben über immer wieder im Krankenhaus gewesen war. Da der alte Smythson auch nicht mehr lange zu leben hatte, würde Martin bald schon seinen Titel erben und Lord Smythson werden. Martin hatte erst kürzlich geheiratet, und Louise betete nachts, dass er einer seiner Krankheiten zum Opfer fiel, bevor seine Frau mit einem Kind niederkam, denn sonst schwand die Möglichkeit, dass der Titel an Nicholas überging. Sie war fest entschlossen, Lady Smythson zu werden, auch wenn das erforderte, bei einem Besuch von Martin ein paar zusätzliche Fenster offen zu lassen oder sein Fleisch nicht richtig durchzugaren – nun, was war schon dabei? Es diente doch alles einem guten Zweck.
Am Morgen des 31 . März 1910 jedoch waren alle Gedanken an die Kleider, die sie in näherer und fernerer Zukunft auf den Beerdigungen der einzelnen Smythsons tragen würde, in den Hintergrund gerückt, während sie festen Schrittes an der Themse entlang auf New Scotland Yard zu marschierte, um einen Mord anzuzeigen.
Den Entschluss, zu Scotland Yard zu gehen, hatte sie an diesem Morgen beim Frühstück gefällt. Die ganze Nacht hatte sie darüber nachgedacht, seit dem Treffen der Music Hall Ladies’ Guild am Abend zuvor im Haus ihrer Freundin Mrs Margaret Nash. Nach ihrer Heimkehr hatte sie kaum schlafen können, und ausnahmsweise einmal war es nicht das Schnarchen ihres Ehemanns im Bett neben ihr gewesen, was sie wach gehalten hatte. Am Frühstückstisch im Wohnzimmer dann – das Erkerfenster war oben einen Spalt geöffnet, um etwas frische Luft hereinzulassen – war Nicholas überrascht, wie zerstreut seine Frau war. Er sah amüsiert zu, wie sie die Marmelade vor der Butter auf den Toast strich, es merkte und ihn schnell aufzuessen versuchte, ehe er eine Bemerkung dazu machte.
»Ist alles in Ordnung, meine Liebe?«, fragte Nicholas, nahm den Kneifer von der Nase und sah sie an, als störe die Brille seinen Blick.
»Ausgezeichnet, Nicholas, danke der Nachfrage«, antwortete sie förmlich.
»Aber du wirkst etwas
distraite«
, sagte er. »Hast du nicht gut geschlafen?«
Sie seufzte und beschloss, sich ihm anzuvertrauen. »Nein, das habe ich nicht, wenn du die Wahrheit wissen willst«, erklärte sie ihm mit trauriger Stimme. »Ich habe gestern Abend ein Gespräch geführt, das mich ratlos zurückgelassen hat.«
Nicholas zog die Brauen zusammen. Seine Frau gab sich normalerweise nicht so geheimnisvoll. Er läutete mit der kleinen Glocke, die auf dem Tisch stand, und als das Mädchen kam, sagte er ihm, es solle die Frühstückssachen abräumen, sie würden den Kaffee am Kamin nehmen. Louise setzte sich aufs Sofa, überdachte alles noch einmal und sah ihren Mann an. »Ich war gestern bei meinem Treffen«, fing sie an. »Du weißt schon, die Music Hall Ladies’ Guild?«
»Aber natürlich, meine Liebe.«
»Ich habe mich mit Margaret Nash unterhalten, über dies und das, und am Ende kamen wir auf Cora Crippen.«
»Auf wen?«
»Cora Crippen, Nicholas. Du kennst sie. Du hast sie schon öfter getroffen. Eine entzückende Person und eine wunderbare Sängerin. Sie war mit Dr. Hawley Crippen verheiratet.«
»Ach ja, richtig«, sagte er und erinnerte sich. »Ein bisschen ein Milchgesicht, dieser Crippen, wenn du mich fragst. Steht unter dem Pantoffel. Lässt sich von seiner Frau fürchterlich schikanieren. Aber sonst wohl ganz ordentlich, würde ich sagen.«
»Nicholas, wirklich! Die arme Frau ist gerade erst gestorben, da kannst du nicht so von ihr reden.«
»Aber hattest du nicht gesagt, du wolltest nichts mehr mit ihr zu tun haben?«, fragte er und dachte an einen unangenehmen Vorfall im Haus der Crippens ein paar Monate zuvor. »So, wie sie dich beleidigt hat. Du warst entschlossen, sie aus der Music Hall Ladies’ Guild ausschließen zu lassen.«
»Sie war aufgebracht, Nicholas.«
»Sie war betrunken.«
»Du solltest wirklich nicht so über jemanden sprechen, der nicht mehr lebt und sich nicht mehr verteidigen kann. Und ich hatte nicht vor, dafür zu sorgen, dass sie ausgeschlossen wird. Ich war nur
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