Der freundliche Mr Crippen | Roman
Schlag auf den Arbeitstisch fiel. Jahrelange Erfahrung sorgten dafür, dass der ältere Mann, wenn er einen Knopf drückte oder Hebel zog, intuitiv den richtigen Zeitpunkt wählte, und so war das Rind in genau der richtigen Position für die nun folgenden Amputationen vor ihnen gelandet, nämlich auf der Seite liegend.
»Wir müssen den Kopf abschneiden«, sagte Price mit ruhiger Stimme, »dann den Schwanz und die Beine, eines nach dem anderen. Dann lassen wir das Blut aus dem Körper, häuten ihn, holen die inneren Organe heraus, spritzen den verbleibenden Torso ab und zerlegen ihn in schmackhafte Portionen. Na, wie klingt das, mein Junge?«
Es war nicht das erste Mal, dass Price einem Neuling beibrachte, wie ein frisch geschlachtetes Tier in die wesentlichen Teile zerlegt wurde, und jedes Mal wieder verfolgte er mit einem verqueren Vergnügen, wie alle, selbst die Hartgesottensten, bis zu diesem Moment aushielten, bis zum Ende seiner kleinen Rede, um dann ungelenk zurückzuweichen, die Hand an den Mund zu heben und nach draußen in die kalte Luft zu rennen, wo sie ausspuckten, was sie kurz vorher dummerweise noch gegessen hatten. Aber als er heute Hawley anblickte, sah er zum ersten Mal seit Jahren kein angeekeltes, entsetztes Gesicht, sondern einen ernst dreinblickenden jungen Mann, dessen Wangen, wenn überhaupt, noch an Farbe gewonnen hatten. Und täuschte er sich, oder zeigte sich da sogar ein leichtes Lächeln auf den Zügen dieses Jungen?
»Mein liebes bisschen«, sagte er überrascht und vielleicht auch ein wenig beunruhigt. »Du bist aber einer von der kalten Sorte, wie?«
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3 Mrs Louise Smythsons erster Besuch bei Scotland Yard
London: Donnerstag, 31 . März 1910
Nicht einmal ihre engsten Freunde hätten behauptet, dass Mrs Louise Smythson etwas für die Arbeiterklasse übrighabe. Selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammend, hatte sie sich aus der Gosse emporgekämpft und blickte verächtlich auf diejenigen herab, die noch immer dort feststeckten. Ihren zukünftigen Mann Nicholas hatte sie als Bardame im Horse and Three Bells in Bethnal Green kennengelernt. Er war gleich hingerissen von ihrer Schönheit, während sie seinem silbernen Zigarettenetui verfiel, dem handgeschnitzten Spazierstock, den er bei sich trug, und seinem Auftreten als Gentleman. Sie bediente ihn an der Bar, und er öffnete seine Brieftasche und ließ ein ganzes Bündel Zwanziger sehen, was seine Attraktivität noch erhöhte. Nachdem sie ihm ein schaumiges Bier serviert hatte und anschließend einen kleinen Brandy, flüsterte sie ihrer Freundin Nellie Pippin zu, dass sie den jungen Mann, der da am Ecktisch saß und die
Times
las, heiraten oder sterben würde. Sechs Monate später lebte sie noch, und die Trauung fand im engsten Familienkreis in einer Kirche beim Russell Square in Bloomsbury statt. Etliche der Anwesenden sagten, das hübsche Mädchen mit der affektierten Aussprache sei fraglos auf die Füße gefallen, daran bestehe kein Zweifel. Aber nun waren sie verheiratet, und Louise entschied, nachdem sie nun mit einem Gentleman verheiratet war, sei sie eine Lady. Da irrte sie. Sie brach jeglichen Kontakt zu ihrer Familie ab – »Nichts als Abschaum sind sie, die meisten von ihnen, keine Manieren, können nicht mal richtig reden, keiner von ihnen, nicht mal Onkel Henry, und der ist als Junge drei Jahre in die Schule gegangen« – und wollte nicht einmal mehr ihre alten Freunde kennen. Sie entwickelte ein Auge für die Mode, indem sie von ihren Erkerfenstern aus die gut gekleideten Ladys, die unten auf der Straße vorbeigingen, sorgfältig betrachtete. Sie schrieb auf, was sie trugen, ging damit zu ihrem Schneider und wollte alles genau so, wie sie es gesehen hatte. Sie kaufte die allerneuesten und modischsten Schuhe und Hüte und bestand darauf, so gut wie jeden Abend in einem der in der besseren Gesellschaft beliebten Restaurants essen zu gehen, wobei sie aus Angst um ihre Figur wenig aß und sich vor allem an der luxuriösen Atmosphäre labte. Nicholas war ein Mann mit wenig Verstand, aber viel Geld, und er war auch weiterhin völlig vernarrt in sie und gab selbst noch ihren ausgefallensten Wünschen nach. Seine eigenen Freunde mussten schließlich zugeben, dass Liebe nicht nur blind machen, sondern auch zum Verlust von jeglichem Geschmack führen konnte.
Obwohl sie ihren Schwager ziemlich gern mochte – schließlich hatte er viel dafür getan, die Smythsons davon zu überzeugen, dass es Nicholas
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