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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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habe ich nicht«, sagte Louise beleidigt. »Cora Crippen ist eine Freundin, und …«
    »Ach, komm schon, du hattest seit Ewigkeiten nicht mit ihr gesprochen. Seit jenem fürchterlichen Abend nicht mehr, als sie uns gegenüber so völlig unsachlich wurde.«
    »Wir waren beide in der Music Hall Ladies’ Guild«, sagte Louise und wollte nicht an die Ereignisse jenes Abends erinnert werden. »Dort fühlen wir uns einander schwesterlich verbunden. Nein, ich bin entschlossen, Nicholas. Ich werde heute noch zu Scotland Yard gehen und dafür sorgen, dass die Polizei den Fall eingehend untersucht. Ich lasse mich nicht davon abbringen.« Louise sagte das so bestimmt, dass Nicholas sich hütete, ihr zu widersprechen.
    »Sehr gut, meine Liebe«, stimmte er ihr zu. »Wenn du darauf bestehst. Nur bemühe dich, keine unklugen Anschuldigungen zu erheben. Dr. Crippen gehört schließlich zur guten Gesellschaft. Vom Rang her mag er unter uns stehen, aber wir haben bestimmt gemeinsame Freunde. Es gibt keinen Grund, in ein Hornissennest zu stechen, solange wir es vermeiden können.«
    »Mach dir keine Sorgen, Nicholas«, antwortete sie und stand auf, um sich ein passendes Kleid für ihren Besuch bei der Polizei anzuziehen. »Ich weiß, was ich tue. Ich weiß, wie die Gesellschaft funktioniert. Schließlich bin ich eine Lady.«
    »Natürlich, meine Liebe. Natürlich bist du das.«
     
    Louise schritt auf den Empfangstisch zu. Der junge Polizist, der dahinter saß, spürte ein Unwetter aufziehen und hob misstrauisch den Blick. Er war groß und schlank und hatte sich das pechschwarze Haar auf geradezu dramatische Weise aus dem Gesicht gekämmt. Louise fühlte sich einen Moment lang von seinen Wangenknochen und Lippen abgelenkt, als sie zu ihm trat. Selten hatte sie einen so attraktiven jungen Mann gesehen. Er gehörte zu der Sorte Mensch, deren Züge etwas Geschlechtsloses hatten, bei denen allein die Kleidung bestimmte, ob sie Mann oder Frau waren. Wie leicht wir uns alle täuschen lassen, dachte sie.
    »Ich bin Mrs Louise Smythson«, erklärte sie dem ganzen Raum und insbesondere dem jungen Beamten, als verkündete sie die Kandidatur für das höchste Amt im Land. »Einen guten Morgen, Constable.«
    »Guten Morgen«, erwiderte der, sah sie an und wartete darauf, dass sie fortfuhr.
    »Sind Sie sich bewusst«, sagte sie nach einer Weile, »dass man sich in vornehmer Gesellschaft, wenn sich jemand vorstellt und seinen Namen nennt, ebenfalls vorstellt?«
    Er überlegte einen Moment lang und blinzelte mehrmals, ehe er begriff, was sie meinte. »Police Constable Milburn«, sagte er endlich schüchtern wie ein kleiner Junge, der von seiner Mutter ausgeschimpft worden war.
    »Nun, Police Constable
Milburn«
, sagte sie und betonte seinen Zunamen, »ich bin hier, um eine offizielle Beschwerde einzureichen. Nun, vielleicht keine Beschwerde, es ist wohl eher eine Aussage. Ja, ich möchte bitte eine Aussage machen.«
    PC Milburn griff nach einer Mappe mit einer Liste der laufenden Untersuchungen. »Sie wurden aufgefordert herzukommen, um eine Aussage zu machen, ist es das?«, fragte er.
    »Nun, nein. Dazu aufgefordert hat mich niemand …«
    »Um welchen Fall geht es denn, Ma’am?«
    »Es ist im Moment noch kein Fall«, sagte Louise irritiert. »Ich bin hier, um einen Fall zu
melden.
Um meiner Sorge wegen einer vermissten Frau Ausdruck zu geben.«
    »Sie wollen also eine Frau vermisst melden?«, fragte Milburn. Der muss man ja jeden Zahn einzeln ziehen, dachte er und bedauerte den Vergleich sofort, trat ihm doch gleich wieder lebhaft ins Gedächtnis, wie ihm selbst mit fünfzehn ein Zahn gezogen werden musste. Der Zahnarzt war eher ein Sadist als ein Mediziner gewesen. Sein ganzes Leben hatte Milburn nie wieder solche Schmerzen ertragen müssen.
    »In gewisser Weise. Sie wurde für tot erklärt, aber ich glaube das nicht, was mit einem blauen Saphirhalsband und einem Paar wunderschöner Ohrringe zu tun hat, dem Lieblingsschmuck der vermissten Lady, wie ich hinzufügen möchte. Ich glaube, ihr ist etwas zugestoßen. Wie es auch meine Freundin Mrs Nash vermutet. Einen Moment, bitte«, sagte sie, griff in ihre Tasche und holte einen kleinen Block hervor, den sie auf der Suche nach einem speziellen Eintrag durchblätterte. »Es muss hier irgendwo stehen«, murmelte sie und deutete dann mit dramatischer Geste darauf. »Hier. Wie man mir gesagt hat, gibt es fünf Oberinspektoren bei Scotland Yard, die sich mit den ernsten Fällen beschäftigen:

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