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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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eigenen Tiere zerlegen. Einen Monat danach schaffte er bis zu sieben oder acht pro Schicht, was ein neuer Rekord war, und er bekam einen Bonus, weil er so schnell und genau arbeitete. Sein Vorarbeiter sagte, er habe noch nie einen so sorgfältig arbeitenden Mann unter sich gehabt. Ihm gefiel besonders die Art, wie Hawley die inneren Organe und Knochen vom Rest des Tieres trennte und so auf seinem Arbeitsplatz verteilte, dass er sie, wenn die Zeit dafür gekommen war, auf schnellstmögliche Weise in die verschiedenen Behälter geben konnte und kaum eine Spur von ihnen zurückblieb.
    So groß war sein Erfolg, dass er eines Abends vor Beginn der Schicht ins Büro zu Leo McKinley gerufen wurde, einem der Besitzer des Schlachthofes. »Wie ich höre, bist du einer unserer besten Jungarbeiter seit langer Zeit«, sagte McKinley. »Geschickt, belastbar, schnell.« Es klang, als wollte er Hawley eine Stelle als Profibaseballspieler anbieten.
    »Ich mag meine Arbeit«, antwortete Hawley bescheiden.
    »Du magst sie, was? Drei Nächte die Woche. Was würdest du von einer Vollzeitstelle halten? Fünf Tagesschichten, und nachts bleibt Zeit für die Mädchen? Was meinst du?«
    Hawley schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich«, erklärte er. »Ich studiere und will Arzt werden.«
    »Hier hast du bessere Aussichten, mein Sohn«, wurde ihm gesagt. »Ich spreche von zwanzig Prozent mehr Lohn. Ein besseres Angebot bekommst du nicht. Was, wenn du eines Tages eine Frau und eine Familie willst? Da brauchst du Geld, Junge. Vertrau mir. Die Frauen erwarten heute einen Mann, der ihnen was bieten kann.«
    Hawley lachte. Das Angebot schmeichelte ihm, aber er ließ sich nicht überreden, sondern blieb bei seinen Nachtschichten und seinen Zielen.
    Jezebel schimpfte, wenn er morgens voller Blut nach Hause kam. »Sieh dich an«, sagte sie voller Abscheu. »Was müssen die Nachbarn denken? Dass du heimtückischer Mörder bist, werden sie denken, gehst abends sauber und ordentlich aus dem Haus und kommst in der Frühe voller Blut und nach Tod stinkend zurück. Was für ein Leben ist das bloß? Das ist kaum Gottes Werk.«
    »Es ist überhaupt kein Leben«, antwortete er kalt. »Es dient nur dazu, Geld zu verdienen.«
    Wie zu erwarten, bekam er nach dem ersten Jahr bei McKinley-Ross sein Diplom aus Philadelphia und dann noch eines, diesmal als Augen- und Ohrenspezialist vom Ophthalmic Hospital in New York City, und das alles dank seiner wöchentlich drei Nächte Arbeit als bester Tierzerleger Michigans. Er träumte von dem Moment, da ihn ein Fremder nach seinem Namen fragen und er endlich so weit sein würde, sich höflich verneigen, ihm leicht vorgebeugt die Hand schütteln und sagen zu können, was er sich so lange schon ausmalte. »Mein Name«, würde er voller Stolz erwidern, »ist Doktor Crippen.«
     
    Obwohl die Fahrt von Ann Arbor in Michigan nach Detroit nicht länger als eine Stunde dauerte, wurde Dr. Hawley Harvey Crippens Entscheidung im Frühjahr 1884 , dorthin zu ziehen, von seiner Mutter als der bewusste Versuch verstanden, ihrem Einfluss zu entfliehen. Damit hatte sie recht.
    Aufgrund seiner zwei Diplome aus Philadelphia und New York wurde Hawley die Position eines Arzthelfers in einer stark frequentierten allgemeinmedizinischen Praxis in der Innenstadt von Detroit angeboten. Seine Tätigkeit war eigentlich die einer Krankenschwester und wurde trotz aller Überstunden schlecht bezahlt, aber sie gab ihm die Möglichkeit, mit Menschen zu arbeiten und nicht mit toten Tieren, und das allein schon lohnte den Aufwand. Die Praxis gehörte vier Ärzten im Alter von dreiunddreißig bis siebenundsechzig, wobei der jüngste, Dr. Anthony Lake, der Sohn des ältesten, Dr. Stephen Lake, war. Die beiden erlaubten ihren Kollegen, sie mit Dr. Anthony und Dr. Stephen anzureden, um Missverständnissen vorzubeugen. Hawley arbeitete für Dr. Stephen und verstand sich ziemlich gut mit ihm, sah der ältere Mann in seinem neuen Angestellten doch die Anlagen für einen guten Arzt. So viel Begeisterung für die Sache hatte er selten erlebt, nicht einmal bei seinem eigenen Sohn, der mehr oder minder in den Beruf hineingeschlittert war, nachdem sein Vater ihm einen Platz an der Universität gekauft hatte.
    »Warum haben Sie nicht Medizin studiert, Hawley?«, fragte Dr. Stephen ihn eines Abends, als die Praxis bereits geschlossen hatte und die beiden in der Küche ein leichtes Abendessen einnahmen. »Sie wissen ebenso viel über die Funktionsweise des

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