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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Körpers wie ein Student kurz vor dem Abschlussexamen. Ich habe weit weniger gut arbeitende Ärzte erlebt. Sie haben außergewöhnlich geschickte Hände, einige Ihrer Nähte sind schlicht großartig.«
    »Ich konnte es mir nicht leisten«, erklärte Hawley. »Die Studiengebühren waren zu hoch. Ich war im Laden meines Vaters angestellt, und es war einfach zu viel Geld. Die Diplome konnte ich nur machen, indem ich drei Nächte die Woche in einem Schlachthof gearbeitet habe.«
    Dr. Stephen verzog das Gesicht, obwohl er alles andere als zimperlich war. »Das ist eine der grausamen Ironien des Lebens«, sagte er. »Der Herr gibt Ihnen das Talent, aber der Gott des Handels und der Finanzen erlaubt Ihnen nicht, es zu nutzen.«
    Hawley lächelte. Der Name des Herrn erinnerte ihn an seine Mutter. Er hatte beide in Ann Arbor zurückgelassen und dachte kaum noch an sie.
    »Übrigens, solange Sie hier sind, vor den Patienten, meine ich, werden Sie immer Dr. Crippen genannt. Natürlich sind Sie nicht wirklich ein Doktor, aber die meisten Medizinstudenten benutzen den Titel, weil sich die Patienten dann wohler fühlen. Es ist einfacher so.«
    »Ich denke, es besitzt einen gewissen Klang«, sagte Hawley.
    Er bewohnte ein kleines Zimmer im obersten Stock eines Hauses nicht weit von der Praxis. Das Haus gehörte Dr. Anthony Lake, der dem neuen Angestellten das Zimmer kurz nach seiner Ankunft in Detroit angeboten hatte und dafür ein Drittel seines Lohnes einbehielt. Das Haus selbst war groß und gut möbliert, Hawleys Zimmer jedoch klein und eng, und es enthielt wenig mehr als ein Bett, einen kaputten Schrank, einen Schreibtisch und ein Waschbecken. Hawley hatte den Eindruck, dass es früher als Lagerraum benutzt worden war, und mehr als einmal wachte er bereits um fünf Uhr morgens auf und hatte das Gefühl, bei der Feuchtigkeit und dem Staub in der Luft zu ersticken. Ein kleines Dachfenster stellte die einzige Lüftungsmöglichkeit dar, ließ aber kaum natürliches Licht herein, da es völlig verschmutzt war und man, um es zu säubern, aufs Dach hinaus gemusst hätte.
    »Wenn Sie da rausklettern wollen«, erklärte sein Vermieter ihm, »können Sie es putzen. Wahrscheinlich aber fallen Sie nur runter und brechen sich das Genick, und dann kann Ihnen kein Arzt dieser Welt mehr helfen.«
    Dr. Anthony war zehn Jahre älter als er, und doch hatte Hawley kein so angenehmes Verhältnis zu ihm wie zu seinem Vater. Er war froh, nicht der Helfer des Jüngeren zu sein. Es war bekannt, dass Medizinstudenten es nicht länger als ein, zwei Monate bei Dr. Anthony aushielten, und ebenso, dass er nur die hübschesten Bewerberinnen anstellte. Er war verheiratet, hatte ein kleines Kind und lebte nur die Woche über im Haus in der Stadt, an den Wochenenden fuhr er hinaus zu Mrs Lake in das elegantere Haus auf dem Land, wo es grüner war. Hawley sah Mrs Lake nur einmal während seiner Zeit in der Eaton Lane und war von ihrer Schönheit überwältigt. Er wurde tiefrot, als sie das Wort an ihn richtete, und brachte seine Antworten nur stotternd heraus. Frauen waren noch ein Mysterium für ihn.
    Wenn er morgens in die Praxis kam, sah er als Erstes Charlotte Bell, die junge Rezeptionistin, die nur drei Tage nach ihm dort angefangen hatte. Ursprünglich stammte sie aus Kalifornien, hatte aber über ein Jahr in Michigan gelebt und ihre vorherige Stelle als Rezeptionistin eines Augenarztes nur verlassen, weil der Arzt verstorben war. Es war diese Verbindung, die sie dazu ermutigte, sich mit dem nervösen jungen Mann anzufreunden.
    »Wie ich höre, haben Sie in New York Augenheilkunde studiert?«, sagte sie eines Tages, als sie zusammen zu Mittag aßen. Hawley überlegte, ob er ehrlich sein und ihr sagen sollte, dass es nur ein Fernkurs gewesen war, oder ob er lügen und sich den Anschein geben sollte, schon weiter herumgekommen zu sein, als es tatsächlich der Fall war.
    »Das ist richtig«, antwortete er kurz entschlossen.
    »Ich wollte immer schon einmal nach New York«, sagte sie und blickte verträumt aus dem Fenster, als müsste sie sich nur genug anstrengen, dann könnte sie dort draußen die Freiheitsstatue sehen. »Aber ich glaube, ich hätte ein wenig Angst. Ist die Stadt so laut und voll, wie man sagt?«
    »Aber ja«, sagte Hawley, der Michigan während seiner gesamten dreiundzwanzig Lebensjahre nicht verlassen hatte. »Da müssen eine Million Leute leben.«
    »Eine Million!«, wiederholte sie atemlos. »Unmöglich, sich das

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