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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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als sie am Fluss entlanggingen und er sie nach Hause brachte.
    »Da irren Sie sich, Miss Bell«, sagte er. »Im Gegenteil, ich habe das Stück sehr genossen, wenn ich auch zugebe, dass ich vom Theater nicht sonderlich viel verstehe. Vor allem …« Er zögerte einen Moment und fragte sich, ob es zu weit ging, so etwas zu sagen, beschloss dann aber, dass er wenig zu verlieren hatte. »Vor allem habe ich Ihre Gesellschaft genossen«, fügte er hinzu. »Ja, wirklich sehr genossen.«
    »Sie sind sehr lieb«, sagte Charlotte und sah ihn mit großer Zuneigung an. Im verschatteten Licht der Straßenlaternen nahmen seine Züge einen klareren Ausdruck an, er wirkte groß und aufrecht, sein Schnauzbart war ordentlich gekämmt, und seine schmale, spitze Nase gab ihm etwas Aristokratisches. Wenn er doch nur etwas größer wäre, dachte sie bei sich. Denn obwohl er blass war, sein Haar etwas farblos, seine Stimme eher schwach und seine ganze Art etwas reservierter, als sie es sich gewünscht hätte, hielt sie ihn doch für weit netter als all die anderen jungen Männer, mit denen sie bisher ausgegangen war. Vor allem netter als Dr. Anthony Lake, der sie in ein billiges Eckrestaurant eingeladen und dann praktisch zu sich nach Hause gezerrt hatte. Sie war jedoch standhaft geblieben und hatte ihm nicht nachgegeben. »Château Lake«, hatte er ausgerufen, und sie hatte sich auf die Lippe beißen müssen, um nicht zu kichern über seine Aufgeblasenheit. Fast hätte sie ihre Stelle verloren, weil sie nicht mit ihm schlafen wollte, aber irgendwann, in einem Augenblick der Lethargie, hatte er beschlossen, sie in der Praxis zu lassen, und sie fortan einfach ignoriert.
    Sie blieben vor Charlottes Haus stehen, auf der Veranda brannte ein Licht. Hawley sah, wie sich die Vorhänge leicht bewegten, und legte die Stirn in Falten. »Mutter und Vater werden noch wach sein«, sagte sie nach einer peinlichen Pause. »Möchten Sie hereinkommen, um sie kennenzulernen? Vielleicht auf eine Tasse Tee? Es war ein so schöner Abend.«
    Hawley schüttelte den Kopf. »Heute Abend nicht«, sagte er. »Ich denke, ich sollte nach Hause gehen. Aber vielen Dank, dass Sie bereit waren, mich zu begleiten.«
    »Aber
Sie
waren es, der bereit war,
mich
zu begleiten«, sagte sie lachend. »Ich war der dreiste Fratz, der Sie eingeladen hat, erinnern Sie sich?«
    Ihre Ausdrucksweise überraschte ihn und amüsierte ihn zugleich. Er konnte nicht anders, er musste lächeln, und das ließ auch Charlotte lächeln. Sie hatte ihn kaum je so aufgeräumt erlebt, es gab ihm etwas Jungenhaftes, nicht wie der ernsthafte Arzt, der er so gern sein wollte. Sie hob den Arm, legte die Hand hinter seinen Kopf, genoss das Gefühl des Haars auf ihren Fingern, zog sein Gesicht an ihres und küsste ihn leicht auf die Lippen. Sein erster Kuss. Sie hielt ihn noch einen Moment fest, ließ ihn dann los und öffnete die Tür zu ihrem Haus. »Gute Nacht, Hawley«, sagte sie und lächelte ihm ein letztes Mal zu, bevor sie nach drinnen verschwand.
    »Miss Bell«, flüsterte er und war völlig verzaubert.
     
    Ja, Leser, sie heirateten. Und mit ihrer Heirat änderten sich die Umstände. Dr. Anthony Lake entschied, dass Dr. Crippens Zimmer oben in seinem Haus für zwei zu klein war, und wenn er auch keinen Groll auf Charlotte hegte, weil sie ihn zurückgewiesen hatte, vermochte er doch nicht zu begreifen, wie sie sein Angebot ablehnen und stattdessen einen Mann wie Hawley Crippen heiraten konnte, der ihm gesellschaftlich wie sexuell so eindeutig unterlegen war. Weder Hawley noch seiner frischgebackenen Ehefrau machte diese Entwicklung jedoch Sorgen: Charlotte hatte ihrem Mann von Dr. Anthonys Avancen erzählt, und sie waren sich einig, dass sie sowieso eine neue Bleibe finden sollten, um ihr Eheleben zu beginnen. Als wollte er der Verletzung noch eine Beleidigung hinzufügen, beschloss Lake allerdings auch, dass Charlotte nicht länger in der Praxis arbeiten konnte.
    »Das sähe nicht gut aus, Crippen«, erklärte er ihm und lehnte sich in den Türrahmen des Zimmers, während Hawley packte. »Eine verheiratete Frau, die arbeitet. Sicher, wenn Sie beide arm wären, und sie wollte ein paar Tage in der Woche Leuten die Wäsche machen, dann wäre das etwas anderes. Aber Sie sind nicht arm. Sie sind fast so etwas wie ein geachteter Mann.«
    »Wir haben kaum etwas in die Suppe zu brocken«, protestierte Hawley.
    »Aber in der Gosse sitzen Sie auch nicht, oder?«, antwortete der Doktor und runzelte die

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