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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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wäre es anders, wusste aber sehr gut, dass ihr Mann Schwierigkeiten hatte, seine Liebe für seinen Sohn zu zeigen. Dass er sie sexuell zurückwies, damit konnte sie leben, schließlich führten sie eine äußerst friedliche Ehe, und es kam nur selten zum Streit. Die Hoffnung, dass er gleichsam über Nacht seine Leidenschaft für sie entdecken oder anfangen würde, statt der eher förmlichen Art, mit der er sie behandelte, wirkliche Zuneigung zu ihr zu entwickeln, hatte sie lange schon aufgegeben. Sie hatte dieses Leben gewählt und war zufrieden damit. Hawleys Unbeholfenheit Otto gegenüber schmerzte sie jedoch. Es war nicht so, dass er dem Jungen wehtat oder seine Gegenwart nicht mochte, so auffällig war es nicht. Er war nur offensichtlich nicht gern allein mit ihm. Wenn sie sah, wie die beiden miteinander spielten, hatte sie den Eindruck, dass Hawley lieber anderswo wäre, und seine Gespräche mit dem Jungen klangen gestelzt und hölzern. Manchmal glaubte sie, zwei parallele, voneinander vollständig getrennte Beziehungen zu führen, eine mit einem Mann und eine mit einem Kind, ohne dass dies etwas mit einer Familie zu tun hatte.
    Um diese Dinge kreisten ihre Gedanken auch, als sie Otto eines Tages im Kinderwagen den McGraw Way hinunter in Richtung Innenstadt schob. Es war kalt, und sie hatte den Jungen in zwei Pullover und eine Decke gepackt, sich selbst aber vergessen, und bedauerte, ohne Mütze und Handschuhe losgegangen zu sein. Den Vormittag hatte sie damit zugebracht, einen Brief an Jezebel Crippen aufzusetzen, in dem sie auf alle Fragen ihrer Schwiegermutter einging. Sie dankte ihr für die Gebete für sie alle drei und schrieb, Hawley meine, es wäre sehr schön, wenn sie zum Ende der Weihnachtsferien nach Ann Arbor kommen könnten. Charlotte dachte gerade an den Brief, den sie in ein paar Monaten würde schreiben müssen, um ihren Besuch wieder abzusagen, da fiel ihr Blick auf ein junges Paar auf der anderen Seite der Straße.
    Die beiden waren nicht viel älter als Hawley und sie, vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig, aber sie lachten, und der junge Mann hatte schützend den Arm um die junge Frau gelegt. Dann plötzlich, ohne jede Vorwarnung, hob er sie in die Luft und drehte sich mit ihr um die eigene Achse, worauf sie vor Glück kreischte und darum bettelte, er möge sie wieder herunterlassen. Lachend schlug sie ihm auf die Schultern, senkte den Kopf, und ihre Lippen trafen sich zu einem leidenschaftlichen Kuss. Charlotte sah, wie die Hand der Frau hinter den Kopf ihres Geliebten fuhr, um ihn fester an sich zu drücken und den Kuss noch wilder und intensiver zu erwidern. Ihre beiden Körper waren eng aneinandergepresst, fast schon ungebührlich, und Charlotte bestaunte den Übermut und die Lüsternheit, die in der Umarmung lag. Sie beneidete die beiden. Ihre Wangen röteten sich, und sie seufzte, als ihr mit einem sehnsüchtigen Schmerz klar wurde, dass sie auf der Stelle alles, alles aufgeben würde, Hawley, ihr Leben, ihr Kind, um so leidenschaftlich von einem Mann umarmt zu werden. Sich so geliebt zu fühlen. Körperlich begehrt. Voller Leben. Ihr wurde vor Hunger ganz schwindelig, während sie den Blick nicht von dem Paar löste, ihr Mund wurde trocken, und ihr Inneres zog sich zusammen. Die Menschen, die an den beiden vorbeigingen, sie entweder ignorierten oder abfällig betrachteten, sah sie nicht. Charlotte war so in den Anblick des liebenden Paares versunken, dass der starke Wind die Gelegenheit nutzte und ihr den Brief an Jezebel Crippen aus der Hand blies, ihn hoch in die Luft wirbelte, ihn fröhlich über der Straße hin und her tanzen ließ und dann mitten auf dem Pflaster ablegte.
    »Oje«, sagte Charlotte, aus ihrem Tagtraum gerissen. »Mein Brief.« Ohne einen weiteren Gedanken ließ sie auch mit der anderen Hand den Kinderwagen los und lief auf die Straße, um den Brief zurückzuholen, wobei sie weder nach links noch nach rechts sah. Die Straßenbahn war kaum ein paar Armlängen entfernt und vermochte weder zu bremsen noch sie zu warnen. In der nächsten Sekunde schon erfasste sie Charlottes Körper, zog ihn an den Fersen unter sich, und die Räder zermalmten sie. Der Wagen fuhr fast ganz über sie hinweg, bis er mit einem Kreischen zum Stehen kam, und die Menschen schrien auf und wandten den Blick ab von dem blutigen, verstümmelten Körper vor sich. Charlottes Beine waren weit gespreizt, ein Arm so gut wie vom Rumpf gerissen, ein paar Zähne rollten in die Gosse und

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