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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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er im Lagerhaus von DeWitt Lansing beim South Street Seaport, wo er sich um die Aufträge kümmerte und auf den Weg brachte, was morgens bestellt worden war. Er bekam ein kleines Grundgehalt und dazu fünfzehn Prozent Provision auf alle Verkäufe. Das genügte, um die Miete für seine Einzimmerwohnung in den Fünfzigern auf der East Side zu bezahlen. Sie war feucht und trist, und aus dem Stockwerk über ihm war ständig Kindergeschrei zu hören. Er hätte sich auch eine etwas bessere Wohnung leisten können, aber statt das Geld auszugeben, sparte er es lieber, um sich aus diesem Leben wirklich befreien zu können. Tatsächlich gelang es ihm, in kurzer Zeit fast sechshundert Dollar anzuhäufen, die er unter den Bodendielen seines Zimmers versteckte.
    Am Morgen des 18 . Juni 1893 stand er vor der Tür von Dr. Richard Morton, einem praktischen Arzt an der Ecke Bleecker Street und Avenue of the Americas. Dr. Morton war ein alter Kunde, und Hawleys Vorgänger bei DeWitt Lansing, ein gewisser James Allvoy, hatte die dreimal jährlich stattfindenden Termine noch in den Terminkalender eingetragen, bevor er die Firma verließ, um als Dompteur im Zirkus mit einer Löwennummer ein neues Leben zu beginnen. Das war heute Hawleys erster Besuch bei Morton, und er wusste, dass er auf eine gute Provision kommen konnte, wenn er seine Karten richtig ausspielte.
    Eine ältere Frau öffnete ihm die Tür, und er schenkte ihr sein unterwürfigstes Lächeln. »Hawley Crippen«, sagte er und lüftete den Hut. »Von den DeWitt Lansing Medical Suppliers. Ich bin hier, um mit Dr. Morton zu sprechen.«
    »Haben Sie einen Termin?«, fragte sie und versperrte ihm mit ihrem breiten Körper den Eingang. Er nickte und erklärte, er sei der neue Vertreter der Firma, und sie ließ ihn mit einem Seufzer, als käme er fürchterlich ungelegen, eintreten und zeigte ihm das kleine Wartezimmer, in dem drei Patienten warteten. »Ich sage dem Doktor, dass Sie hier sind«, sagte sie, »aber er muss die Leute erst noch behandeln, es könnte also etwas dauern.«
    »Das ist völlig in Ordnung«, sagte Hawley und wartete, bis sie gegangen war, ehe er das Gesicht verzog und nervös auf die Uhr sah. Es war bereits eins, und er hatte noch einen Termin um halb drei, bevor er zum Lagerhaus musste. Er konnte es sich nicht erlauben, zu spät zu kommen, weder zum einen noch zum anderen, musterte die drei Patienten, einen alten Mann, eine junge Frau und einen Teenager, und versuchte, vom bloßen äußeren Anschein her ihre Symptome zu ergründen. Der alte Mann starrte mit kläglichem Gesichtsausdruck auf den Boden vor sich, und sein keuchender Atem war deutlich zu hören. Ein Asthmatiker, dachte Hawley. Braucht ein neues Rezept, dauert höchstens fünf Minuten. Die junge Frau drückte sich in den Schatten neben den Vorhängen und versuchte, unbemerkt zu bleiben. Alleinstehend, schwanger. Zehn Minuten. Der Teenager, ein Junge, hatte einen Arm in einer Schlinge, wirkte gelangweilt und warf der Frau, wenn er dachte, dass sie ihn nicht ansah, immer wieder Blicke zu. Wahrscheinlich kam der Gips herunter. Fünfzehn Minuten. Wenn also alles gut ging, war Morton bis halb zwei mit den dreien fertig, und er selbst brauchte fünfundvierzig Minuten, um das Herbstsortiment durchzugehen, was ihm genug Zeit lassen sollte, es rechtzeitig zu seinem letzten Termin zu schaffen. Er seufzte und sah nervös zur Tür hinüber.
    Am Ende war es fast zwei Uhr, bis Dr. Morton ihn ins Sprechzimmer rief. Hawley schwitzte, wegen der Wärme und weil er zunehmend nervöser wurde. Zu seiner Enttäuschung schien die Praxis überraschend gut ausstaffiert, und er sah einige Packungen, die er nicht gleich erkannte. Dr. Morton sah ihn misstrauisch an und hatte kein entschuldigendes Wort für ihn übrig, weil er ihn so lange hatte warten lassen. Nach der Behandlung der drei Patienten aus dem Wartezimmer hatte er noch eine kurze Mittagspause eingelegt, und Hawley konnte das Roastbeef und die Essiggurken in seinem Atem riechen, als Morton sich für seinen Geschmack etwas zu nahe neben ihn setzte. Ich muss daran denken, ihm auch unsere neuesten Mittel gegen Mundgeruch zu zeigen, dachte er.
    »Ich kenne Sie noch nicht, oder?«, fragte Dr. Morton. »Was ist mit dem Kollegen, der bisher immer herkam? Klein, unreine Haut, kratzte sich ständig.«
    »Mr Allvoy?«, sagte Hawley. »Er hat eine neue Stelle angetreten. Ich nehme von jetzt an die Bestellungen für DeWitt Lansing an. Hawley Crippen.« Er beschloss,

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