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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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dem Arzt nicht näher zu erläutern, welch exotische Wende der Berufsweg Mr Allvoys genommen hatte.
    »Eine neue Stelle!«, schnaubte Dr. Morton. »Zu meiner Zeit nahm man eine Arbeit an, blieb sein Leben lang dabei und diente sich langsam nach oben. Heutzutage scheinen die jungen Männer immer nur noch ein paar Jahre Ausdauer zu haben. So leben Landstreicher und keine anständigen, arbeitenden Menschen.«
    »In der Tat«, sagte Hawley, öffnete seine Mappe und seinen Musterkoffer und hoffte, nicht in ein Gespräch über den Niedergang und Fall der gegenwärtigen Jugend gezogen zu werden. Die erste Regel eines Vertreters war, das wusste er, nicht mit dem Kunden zu streiten. »Nun, Dr. Morton«, begann er mit gekünstelter Freundlichkeit. »Ich kann Ihnen heute einige aufregende neue Produkte zeigen, angefangen mit einem wirklich revolutionären …«
    »Bevor Sie anfangen, junger Mann«, sagte der Arzt und hob eine dicke, faltige Hand, um ihn zu unterbrechen, »sollte ich Ihnen wohl sagen, dass Jenson schon hier war, mit denen ich in letzter Zeit gute Geschäfte gemacht habe. Ich werde also weniger bestellen. Es lohnt sich nicht, darüber zu diskutieren. Lassen Sie mich das von Beginn an offen so sagen.«
    »Jenson?«, fragte Hawley, als er den Namen von DeWitt Lansings härtestem Konkurrenten unter den medizinischen Versorgern New Yorks hörte. »Aber Sie waren über so viele Jahre
unser
Kunde.«
    »Das bin ich immer noch, mein Junge«, sagte er. »Es ist nur so, dass Jenson Sie bei einigen Produkten preislich unterbietet, also habe ich sie dort gekauft. Bei anderen sind Sie, wie ich weiß, preiswerter. Ich sehe mir Ihr Angebot gerne an, aber es wird wohl so sein, dass ich meine Aufträge fortan zwischen Jenson und Ihnen aufteile.«
    Hawley schluckte und versuchte, ruhig zu bleiben. Er sah ein chirurgisches Messer auf einem Seitentisch liegen und überlegte, ob er es packen und Morton zwischen die Augen schieben sollte. Er konnte nichts tun, wenn der Doktor mit zwei verschiedenen Zulieferern arbeiten wollte, aber natürlich reduzierte das seine Provision. Hawley ging durch sein Bestellbuch, führte dem Arzt einige neue Produkte vor, die er mitgebracht hatte, und beschrieb andere. Morton nahm einige und informierte ihn, dass Jenson andere um ein Drittel billiger anbot. Als sie endlich fertig waren, konnte Hawley seine Wut kaum mehr im Zaum halten. Die Bestellung war nicht einmal halb so groß, wie er erwartet hatte, und es war schon halb drei, und er hätte längst bei Dr. Albert Cuttle an der Ecke Sixteenth Street und Fifth Avenue sein sollen.
    »Ihr Gesicht ist ganz rot«, sagte Dr. Morton, als Hawley stumm seine Muster einpackte. »Sind Sie krank? Soll ich Sie mir einmal ansehen?«
    »Ganz und gar nicht«, antwortete Hawley. »Ich bin nur etwas enttäuscht, dass Sie uns vor Ihrer Entscheidung für einen anderen Zulieferer nicht die Gelegenheit gegeben haben, unsere Konditionen zu verbessern, das ist alles. Schließlich haben wir eine langjährige Geschäftsbeziehung.«
    »Ich habe Sie eben erst kennengelernt«, sagte Dr. Morton mit einem Lächeln, da er sich in seiner eigenen Praxis nicht schelten lassen wollte.
    »Sie sind in einer langjährigen Geschäftsbeziehung mit meiner Firma«, sagte Hawley. »In meiner letzten Praxis in Detroit haben wir solche Verbindungen gepflegt.«
    »In Ihrer letzten Praxis?«, fragte Morton überrascht. »Aber Sie sind doch Vertreter und kein Arzt.«
    »Ehrlich gesagt, bin ich Arzt«, antwortete Hawley gereizt. »Ich habe in New York nur noch keine Stelle gefunden, die meinen Fähigkeiten entspricht. Da haben die guten Leute bei DeWitt Lansing die Gelegenheit ergriffen.«
    »Nun, was für ein Arzt sind Sie denn?«, fragte Morton, der ihm kein Wort glaubte und sich über diesen jungen Emporkömmling ärgerte, der glaubte, so mit ihm reden zu können. Schließlich war es allein seine Entscheidung, wie er sein Geld ausgab. »Wo haben Sie studiert?«
    Hawley leckte sich die Lippen und bereute seine Worte bereits. »Ich habe ein Diplom vom Medical College of Philadelphia«, sagte er, »und eines als Augen- und Ohrenspezialist vom Ophthalmic Hospital hier in New York.«
    Dr. Morton überlegte. »Durch Fernkurse?«, fragte er. Hawley nickte ganz leicht. »Dann sind Sie kein Arzt, Sir«, sagte Dr. Morton mit einem befriedigten Lächeln. »Den Titel verdienen Sie sich nur mit einem langjährigen Vollzeitstudium an einer anerkannten medizinischen Fakultät. Es reicht nicht, einfach

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