Der freundliche Mr Crippen | Roman
ein paar Formulare auszufüllen und wegzuschicken, um an ein Zertifikat zu kommen. So wird man heutzutage möglicherweise Priester, aber nicht Arzt.«
»Ich bin Dr. Hawley Harvey Crippen«, kam die zornige Antwort.
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Mann, Sie sind nichts dergleichen.« Dr. Morton hob den Finger und bewegte ihn vor Hawleys Gesicht hin und her. »Machen Sie keinen Fehler: Wenn ich von einem Burschen wie Ihnen zu hören bekomme, der in dieser Stadt ohne Abschluss als Mediziner auftritt, bleibt mir nichts, als die Behörden zu informieren. Für solche Fälle gibt es Gesetze, wissen Sie.«
Zwanzig Minuten später fand sich Hawley mit einem Miniaturauftrag in der Mappe auf der Straße wieder und hielt wütend seinen Musterkoffer fest. Er wusste, was Dr. Morton gesagt hatte, war im strengen Wortsinne richtig, und er hasste ihn dafür. Wenn er sich den Leuten auch immer wieder als Doktor vorstellte, war ihm doch bewusst, dass er dabei die Definition etwas dehnte. Tatsächlich erlaubten ihm die Diplome nur, als Assistent eines Arztes zu arbeiten, wie er es in Detroit für den älteren Dr. Lake getan hatte. Alles andere war Betrug.
Er zog die Uhr aus der Tasche. Es war fast drei Uhr. Für Dr. Cuttle war er zu spät, der würde ihn, das wusste er aus Erfahrung, jetzt nicht mehr empfangen. Er überlegte, ob er trotzdem hingehen und um einen späteren Termin bitten sollte, doch damit würde er keinen Erfolg haben, denn der Mann war sehr auf Pünktlichkeit bedacht. Im Übrigen vermochte er Hawley leicht in Wut zu bringen, denn er war erst vierundzwanzig Jahre alt und bereits ein voll ausgebildeter Arzt mit eigener Praxis, worum ihn Hawley enorm beneidete. Wie er gehört hatte, war Cuttle ein entfernter Cousin Roosevelts, und die Familie hatte ihm alles bezahlt.
Es reicht!, dachte er endlich, verlassen im Straßennetz Manhattans. Für heute reicht es.
Er verbrachte den Nachmittag in seinem Zimmer, lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Er fühlte sich ungeheuer einsam. Er hatte keine Freunde in der Stadt und keine Familie. Von Zeit zu Zeit wanderten seine Gedanken zu Charlotte, aber er vermisste sie nicht sehr, und der Gedanke quälte ihn. War er wirklich so gefühllos, wie es den Anschein hatte? Otto hatte er nicht mehr gesehen, seit er ihn nach dem Tod der Mutter zu den Großeltern geschickt hatte. Eine Weile lang hatte er mit den Schwiegereltern noch korrespondiert, in letzter Zeit jedoch nicht mehr. Er hatte ihnen nichts zu sagen, und er konnte nicht so tun, als hegte er väterliche Gefühle für den Jungen. Tief in seinem Herzen wusste er, dass er seinen Sohn nie wiedersehen würde.
Er beschloss, am Abend auszugehen und seinen Kummer in einer örtlichen Music Hall zu ertränken, was ungewöhnlich für ihn war. Er hatte die Plakate für die fragliche Show schon etliche Male gesehen, da er auf dem Weg zur Arbeit am Theater vorbeikam. Hineingegangen war er nie. Das Mädchen am Schalter für die Eintrittskarten kaute Kaugummi und beachtete ihn kaum, als er seine zehn Cent zahlte, dennoch war er leicht verlegen, setzte sich allein an einen der Tische und trank ein Bier, während die Komiker und Tanzgruppen auf die Bühne kamen und so viel Leidenschaft an den Tag legten, wie sie für die paar Cent, die sie verdienten, aufzubringen vermochten. Das Publikum schenkte ihnen nicht mehr Beachtung als den Gesprächen untereinander, und nur etwa die Hälfte der Plätze war besetzt, wobei sich ein guter Teil der Gäste um die Bar und die Tische dort drängte. Eine Stunde oder mehr verging, Hawley hatte mehrere Bier getrunken und wurde langsam müde. Er überlegte, ob er nach Hause zurückgehen sollte. Bevor er jedoch eine Entscheidung fällen konnte, trat ein eleganter älterer Mann mit einem auffälligen Schnauzbart und einer Weste im Paisleymuster auf die Bühne und klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen.
»Ladys und
Geeent-
lemen«, verkündete er mit lauter Stimme und dehnte die Worte dabei wie ein Gummiband, wobei er den allgemeinen Lärm, die Buhrufe und Pfiffe aus den verschiedenen Teilen des Theaters überhörte. »Ich habe das große Vergnügen, ja, das wirklich
seeehr
große Vergnügen, Ihnen einen der wahren Stars der New Yorker Musicalbühnen vorstellen zu dürfen. Seit sechs Monaten ist sie unser Liebling hier im Playbill Showhouse. Seit sechs Monaten, Ladys und Gentlemen, sechs Monaten voller Raffinement! Voller Kunst und Eleganz! Bitte lehnen Sie sich
Weitere Kostenlose Bücher