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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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vom ein Stück entfernt liegenden Zwischendeck und das harmonische Rauschen der Wellen, die sein Schiff, die
Montrose,
durchschnitt. Er wollte gerade wieder hineingehen, als er zwei Passagiere auf Deck kommen sah, die sich ins Dunkel der Schatten drückten und nervös umsahen.
    »Gehen wir in die Kabine«, sagte Mr Robinson mit gedämpfter Stimme. »Da können wir reden.«
    »Gleich«, sagte Edmund. »Ich brauche nur noch etwas frische Luft.«
    Kapitän Kendall wollte den beiden schon ein Zeichen geben, dass er über ihnen stand, hatte sich Mr Robinson doch bislang als sein liebster Passagier erwiesen. Er besaß weder die Taktlosigkeit von Mrs Drake noch die Distanziertheit ihrer Tochter, weder die schillernde Galanterie von diesem Monsieur Zéla noch das pubertäre Gehabe seines Neffen, weder die einfältige Natur von Miss Hayes noch die vorwitzige Arroganz von Mr Carter. Mr Robinson war der Einzige, mit dem er sich auch privat unterhalten würde. Wäre Edmund jetzt nicht bei ihm, würde er ihn vielleicht sogar auf eine Zigarre einladen, sozusagen als Ersatz für Mr Sorenson.
    »Willst du wirklich morgen mit diesem Mädchen Bowls spielen?«, fragte Mr Robinson.
    »Ich will sie nicht verärgern«, antwortete Edmund. »Ich bin sicher, sie ist eigentlich eine ganz nette Person, nur ein wenig egoistisch.«
    »Sie wird nur wieder versuchen, dich zu verführen. Darauf kannst du wetten.«
    Ich wusste es, dachte Kapitän Kendall und verspürte einen merkwürdigen Gefallen daran, dass der Junge die Annäherungsversuche des Mädchens offenbar zurückgewiesen hatte.
    »Ich glaube nicht«, sagte Edmund, »sie wird zu sehr damit beschäftigt sein, diesen Tom DuMarqué abzuwehren. Hast du gesehen, wie er sie angeschmachtet hat? Ich dachte, er wollte sie bei lebendigem Leib verschlingen. Dabei ist er noch ein Kind.«
    »Ich habe ihn kaum bemerkt«, sagte Mr Robinson und zog Edmund an sich heran. »Ich hatte, wie immer, nur Augen für dich.«
    Eine Weile herrschte Schweigen, während sich die beiden in die Augen sahen. Kapitän Kendall lehnte sich vor und linste in die Finsternis, um erkennen zu können, was dort unten vorging. Seine Augen wurden größer und größer, und er musste sich zurückhalten, nicht laut aufzuschreien. Mr Robinson und Edmund küssten sich leidenschaftlich, ihre Lippen schienen fest miteinander verbunden, und sie pressten die Körper gegeneinander. Er starrte zu den beiden hin und konnte nicht glauben, was er da sah. Es war zu schockierend, zu unerhört, zu …
    Mr Robinson fuhr mit der Hand durch Edmunds Haar, das sich von dessen Kopf löste und aufs Deck fiel. Kapitän Kendall schnappte nach Luft und glaubte schon, er müsste sich übergeben. Was zum …?, dachte er, bevor er genauer hinsah und feststellte, dass es natürlich nicht das Haar des Jungen war, sondern eine Perücke, unter der dichte, brünette Locken hervorgequollen waren.
    »Meine Haare«, flüsterte Edmund und hob die Perücke auf. Dabei ließ ein Lichtschein den Umriss seines Gesichts erkennen, und Kapitän Kendall sah zum ersten Mal das zarte Profil mit dem echten Haar. Edmund blickte schnell übers ganze Deck, um sich zu versichern, dass niemand etwas gesehen hatte, und setzte dann die Perücke wieder auf. »Gehen wir nach unten«, sagte er, und sie verschwanden über den Niedergang in Richtung ihrer Kabine.
    »Eine Frau!«, sagte Kapitän Kendall mit bleichem Gesicht und voller Staunen über das, was er da gesehen hatte. »Edmund Robinson ist eine Frau!«

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    6  Der zweite Fehler
    New York, London: 1893 bis 1899
    Zuerst schüchterten die Menschenmengen New York Citys Dr. Hawley Harvey Crippen ein, und er sehnte sich danach, in die weniger großstädtische Welt von Detroit oder den Frieden und die Ruhe von Ann Arbor zurückzukehren. Er war von den DeWitt Lansing Medical Suppliers als Vertreter für Manhattan angestellt worden und zog morgens von Arztpraxis zu Arztpraxis, wo er Termine mit Männern hatte, die oft jünger waren als er und die er dafür zu interessieren versuchte, die neuesten medizinischen Instrumente und Medikamente für ihre Praxis anzuschaffen. Die Arbeit deprimierte ihn, denn er hatte nie Verkäufer werden wollen, sondern immer nur Arzt, und so, wie ihn seine Kunden behandelten, fühlte er sich unbedeutend und herabgesetzt. Sie sahen ungeduldig auf die Uhr und unterbrachen ihn mitten im Satz, doch er unterdrückte seinen Zorn und verdiente sich seinen Lebensunterhalt. Seine Nachmittage verbrachte

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