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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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hast. Warum muss man überhaupt unbedingt berühmt werden?«, fragte sie. »Kannst du nicht einfach hier glücklich sein? Du hältst dich für so viel besser als wir anderen, Cora Turner.«
    »Pass nur auf«, sagte Cora, die fertig war und sie auf dem Weg zur Tür mit einem Lächeln ansah. »Eines Tages liest du von mir in der Zeitung, und du siehst deinen Mann an und sagst: ›Aber das ist ja Cora Crippen! Cora Turner hieß sie mal. Wir sind in derselben Music Hall aufgetreten. Da, sieh nur, was aus ihr geworden ist. Wer hätte das gedacht!‹«
     
    Bald darauf schon packten Dr. Hawley Harvey und Mrs Cora Crippen ihre Besitztümer und zogen von New York nach London, wo Coras Stern, wie sie dachte, endlich aufgehen würde. Sie hatte immer die Vorstellung gehabt, eines Tages werde ein Mann kommen, ein Mann mit Geld und Leidenschaft, der sie von den Plakaten der Music Halls in New York ganz nach oben auf die Plakate der Opernhäuser Europas bringen werde. Die wirklich großen Schauspielerinnen und Sängerinnen gehörten nach London und Paris, glaubte sie, nicht nach Manhattan, und ganz sicher mussten sie nicht Abend für Abend Betrunkene unterhalten, woran sich zehn Minuten Vergnügen mit einem prospektiven Ehemann anschlossen, bevor der wieder aus der Tür marschierte. Sie wartete darauf, dass ihr der Richtige begegnete – und sie bekam Hawley Crippen.
    Im Gegensatz zu seiner neuen, jüngeren Frau wäre Hawley völlig glücklich damit gewesen, in Amerika zu bleiben. Zwar mochte er seine Arbeit nicht, aber seine Ersparnisse wuchsen, und er überlegte, ob er einen längerfristigen Teilzeitkurs an einem Ausbildungskrankenhaus in der Stadt belegen sollte, der es ihm am Ende vielleicht doch noch ermöglichte, den Doktortitel führen zu dürfen. Er wollte nicht weg, doch bei einer Kraftprobe zwischen den beiden hatte Cora schließlich die Oberhand behalten.
    »Du willst bloß nicht, dass ich meine Talente nutze, oder?«, schrie sie ihn in ihrem kleinen Zimmer auf der East Side an. »Du willst mich hier eingesperrt halten wie ein Tier. Du bist neidisch auf mich.«
    »Das stimmt einfach nicht, meine Liebe«, sagte Hawley ruhig und hoffte, seine leisen Worte würden sie dazu bringen, ebenfalls leiser zu werden. Erst vor zwei Abenden war ein ziemlich bulliger Mann von unten heraufgekommen, hatte gegen die Tür geschlagen und ihm erklärt, wenn er seine verrückte Alte nicht ruhigstelle, werde er es für ihn tun. Hawley fühlte sich allmählich geneigt, das Angebot anzunehmen.
    »Es stimmt
doch«
, kreischte sie. »Sieh dich nur an, du arrogantes kleines Nichts, wie du so tust, als wärst du ein Doktor, dabei bist du nichts als ein Vertreter. Ich kann eine große Sängerin werden, Hawley, die Sensation der Londoner Bühnen. Hier in New York gibt es zu viele Sängerinnen, dort drüben bin ich etwas Exotisches. Die Leute werden dafür bezahlen, mich zu sehen.«
    »Aber London …«, wimmerte er. »Das ist so weit weg.«
    »Oh, Himmel noch mal, wir leben so gut wie im zwanzigsten Jahrhundert. In zwei, drei Wochen sind wir da, und sechs Monate später können wir mit Queen Victoria im Buckingham-Palast dinieren.«
    Der Streit ging weiter. Manchmal griff sie zu einer anderen Taktik und sagte, sie könnten in London noch einmal neu anfangen, und er sei dort vielleicht endlich in der Lage, sein Medizinstudium zu absolvieren. »Ich werde so viel Geld verdienen«, sagte sie. »Ich kann eine der großen Bühnensängerinnen werden, und ich bezahle dir deine medizinische Ausbildung. Dann kannst du eine Praxis in der Harley Street eröffnen, und wir laden jeden Abend Gäste ein. Denk an die Partys, Hawley! Denk an das Leben, das wir führen werden.«
    Wenn sie so redete, liebevoll und ermutigend, neigte er diesen Plänen schon eher zu, doch ihre Laune konnte von einer Sekunde auf die andere umschlagen. Manchmal fragte er sich, wie er überhaupt in diese Situation hatte kommen können. Er hatte sich ziemlich schnell in Cora verliebt. Mit ihr war er nicht mehr allein. Sie war gutherzig, rücksichtsvoll und gesittet. Er gab vor, etwas zu sein, was er nicht war, übertrieb, was sein Geld und seine Position anging, und sie machte es genauso und spielte das nette Mädchen. Bald wurden sie ein Paar, und er hätte es nicht ertragen, wieder von ihr getrennt zu werden. Im Gegensatz zu seiner ersten Frau, die bis in den Tod scheu und unschuldig geblieben war, wusste Cora genau, was sie von einem Mann wollte und wie sie es bekam. Obwohl sie erst

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