Der freundliche Mr Crippen | Roman
siebzehn Jahre alt war, und damit vierzehn Jahre jünger als er, verfügte sie zwischen den Laken über Erfahrungen und Talente, die ihn gleichzeitig erschreckten und in Bann zogen. Er war ihr Weg aus der Gosse, und sie hörte ihm zu und sagte, sie glaube an ihn. Sie heirateten und waren beide vom Ergebnis enttäuscht.
Obwohl er fast jeden Abend ins Varieté ging und ihre Auftritte durchaus genoss, spürte er doch, dass auch ein guter Stimmlehrer nicht ausreichen würde, um aus seiner Frau einen Gesangsstar zu machen. Sie traf die richtigen Töne und vermochte sie zu halten, daran bestand kein Zweifel, aber das konnte er auch, wenn er wollte, und machte ihn das zu Caruso? Ihre Stimme trug nur durch den halben Raum, und sie klang eher wie ein auf der Fensterbank zwitschernder Vogel als wie ein morgendlicher Chor, der die Sonne begrüßte. Unablässig übte sie ihre Tonleitern, bis der unangenehme Kerl aus der Wohnung unter ihnen drohte, ihnen beiden das Genick zu brechen – die höchsten Noten wollten ihr dennoch nicht gelingen. Trotzdem blieb sie dabei, dass sie enormes Talent habe und die ganze Welt das bald schon erkennen werde.
In London mieteten sie die obere Etage in einem Haus am South Crescent, direkt an der Tottenham Court Road. Der Preis war vernünftig, und Hawley genoss es, dass er nur um den Bedford Square und die Montague Street hinunter spazieren musste, um ins British Museum zu kommen. Dort herrschte immer Ruhe und Frieden, dort stand niemand am Fenster und übte missklingende Arpeggios, und er konnte ungestört Bücher über Medizin lesen. Er interessierte sich mehr und mehr für die neue Welt der Pathologie und Gerichtsmedizin, für Autopsien und das Sezieren des menschlichen Körpers, las, was er darüber finden konnte, war fasziniert von den groben Strichzeichnungen, die er überall auf den Seiten fand, und fragte sich, ob es möglich war, als Besucher einer echten Autopsie beizuwohnen. In den Büchern wurden die verschiedenen Instrumente beschrieben, die Werkzeuge, die gebraucht wurden, um die Organe zu entfernen, die dünnen Klingen der Skalpelle, die wie heiße Messer durch Butter schnitten, die Sägen zur Öffnung des Brustkorbs, die Zangen, mit denen die Rippen getrennt wurden. Darüber zu lesen, darüber nachzudenken, erfüllte seinen ganzen Körper mit einem erregten Kribbeln. Seine Augen wurden größer, der Mund trocknete aus, und er spürte das Blut in den Lenden. Das Museum war bestens mit medizinischen und wissenschaftlichen Zeitschriften ausgestattet, und wann immer er sich mit einem Stapel Ausgaben des
Scientific American
oder des
British Medical Journal
an einen Tisch setzte, fühlte er sich zurückversetzt in seine Kindheit nach Ann Arbor und musste an Jezebel Crippens Entschlossenheit denken, ihn von der sündigen Welt der Medizin abzubringen und zurück auf den Weg zu Jesus zu führen. Vor langer Zeit schon hatte er alle Verbindungen zu seinen Eltern abgebrochen, er wusste nicht einmal, ob sie noch lebten. Er dachte so gut wie nie an sie, und wenn, dann ohne irgendwelche Gefühle oder menschlichen Regungen.
Bald schon begannen ihre Ersparnisse dahinzuschwinden, und Hawley war gezwungen, sich nach Arbeit umzusehen. Eines späten Nachmittags zu Anfang des Frühlings, als er die Shaftesbury Road hinunterging, fiel sein Blick auf ein Schild im Schaufenster von Munyon’s Homeopathic Medicines, mit dem ein »Mann für eine gute Position in dieser Firma« gesucht wurde. Er trat ein und stellte sich als Dr. Hawley Harvey Crippen vor, zuletzt in Detroit und New York, mittlerweile glücklich im Londoner West End ansässig und auf der Suche nach einer passenden Beschäftigung.
James Munyon, der alternde Besitzer der Firma, hörte den fremden Akzent, linste über die Brille und registrierte den ziemlich schäbigen Zustand von Schuhen und Kleidung seines Gegenübers. Munyon war in seinen Siebzigern und hatte sein ganzes Leben im Medizinhandel gearbeitet. Seine Hände waren von all den Tränken und Tinkturen verfärbt, die er während der letzten fünfzig Jahre verfertigt hatte, und die Dämpfe, die er dabei hatte einatmen müssen, fanden sich in seiner Stimme wieder. Er glich in jeder Hinsicht einem Mann aus einer Schauergeschichte und schien aus nichts als Haut, Knochen und Chemikalien zu bestehen. Hawley schluckte, bewahrte jedoch die Fassung. Er war entschlossen, sich in London nicht mit der gleichen Respektlosigkeit behandeln zu lassen wie in New York. Schließlich war er ein
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