Der freundliche Mr Crippen | Roman
gebildeter Mann, ein Mann der Medizin und nicht irgendjemand, auf den man herabblicken konnte.
»Es ist keine medizinische Tätigkeit«, sagte Munyon, der annahm, dass Hawley die Wahrheit sagte, wenn er sich mit einem Doktortitel vorstellte. »Ich suche nach einem Geschäftsführer. Munyon’s ist ein Geschäft für homöopathische Medizin, keine Arztpraxis. Das ist Ihnen doch klar, oder?«
»Gewiss«, sagte Hawley, der sich bewusst war, dass im Augenblick jedes Einkommen besser war als keines. Zwar verfügte er immer noch etwa über die Hälfte seiner Ersparnisse, von denen er ein Gutteil vor den Augen und Plänen seiner charmanten Gattin verbarg, wollte aber keinesfalls noch mehr davon ausgeben. Eine zusätzlich sprudelnde Finanzquelle war unerlässlich, nicht zuletzt, da Cora sehr entschlossen nach einem Gesangslehrer suchte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dass sie kommen und Geld von ihm fordern würde. »Und homöopathische Medizin«, sagte er, hatte mit dem Wort zu kämpfen und versuchte, sich an das zu erinnern, was er darüber in den Medizinzeitschriften im British Museum gefunden hatte. »Das ist …?«
»Wir handeln mit ergänzenden Mitteln, Dr. Crippen. Unsere Kunden bevorzugen es, Krankheiten mit winzigen Dosen natürlicher Substanzen zu behandeln, die, von gesunden Personen eingenommen, Krankheitssymptome hervorrufen würden. Einem Kranken im richtigen Maß verabreicht, können sie jedoch zu bemerkenswerten Heilerfolgen führen. Sie wissen doch um den Fortschritt der homöopathischen Medizin während der letzten Jahre?«
»Jaja, natürlich«, log er. »In Amerika ist der Markt allerdings noch klein und die Beachtung begrenzt.«
»Es braucht noch Zeit, um die Ungläubigen zu überzeugen«, gab Munyon zu. »Viele Ärzte wollen nichts mit der Homöopathie zu tun haben. Sie behandeln immer noch lieber alles mit Tränken und Salben, Messern und Aderlässen. Sogar mit Egeln. Das sind archaische Methoden, wenn Sie mich fragen.«
Hawley überraschte die moderne Einstellung von Mr Munyon, in dem er entsprechend seinem Alter und seiner Gebrechlichkeit eher einen Traditionalisten vermutet hätte. Die Räume waren von einem intensiven, ungewöhnlichen Geruch erfüllt, die Schränke voll mit regenbogenfarbenen Schachteln und Packungen mit merkwürdig benannten Substanzen. »Die Kunden kommen hierher?«, fragte er, fasziniert von der Aladinhöhle, in die er da geraten war. »Sie fragen hier bei Ihnen nach medizinischem Rat?«
»Manchmal, aber meist kommen sie mit Rezepten«, sagte Munyon. »Es gibt einige homöopathische Kliniken in London, mit denen wir in engem Kontakt stehen. Sie verschreiben bestimmte Behandlungen, wir beschaffen die Mittel. In der Hinsicht arbeiten wir wie eine Apotheke. Wir bieten aber auch nicht verschreibungspflichtige Mittel für normale Kunden an. Am Anfang war es schwierig, doch die Zeiten haben sich merklich gebessert. Weshalb ich nach einem Geschäftsführer suche.«
»Nun«, sagte Hawley, dem gefiel, was er sah, obwohl er sonst eigentlich allem, was nicht streng wissenschaftlich war, mit natürlicher Skepsis begegnete. »Wenn Sie mir eine Chance geben wollen, werde ich Sie sicher nicht enttäuschen.«
Cora Crippen kam mit einer Tasche voller Lebensmittel unter jedem Arm nach Hause und hatte Schwierigkeiten, den Schlüssel ins Schloss der Eingangstür zu bekommen, ohne eine davon fallen zu lassen. Nach einem, wie es ihr schien, erfolgreichen Nachmittag hatte sie beschlossen, sich und Hawley mit einem etwas aufwendigeren Abendessen als gewöhnlich zu verwöhnen. (Üblicherweise beschaffte sie die Zutaten, und er kümmerte sich um die Zubereitung.) Es war ein kalter Tag, und auf dem Heimweg vom Lebensmittelladen hatte es angefangen zu nieseln. Ihr Kleid, das etwas zu lang war und das sie, da sie die Hände voll hatte, nicht hatte anheben können, hatte den Regen aus den Pfützen auf dem Bürgersteig aufgesogen. Sie seufzte genervt und sehnte sich danach, es ausziehen und sich eine Tasse Tee kochen zu können. Es war ihr bestes Kleid, und sie trug es nur wegen dem, was sie heute vorgehabt hatte, bedauerte das aber schon, denn jetzt musste es gewaschen werden.
Wenn man das Haus am South Crescent betrat, kam man in einen Vorraum, von dem aus eine Treppe hinauf in ihre Wohnung führte. Im Erdgeschoss wohnten die Jennings, und wenn sie sich auch immer ausgesucht höflich begegneten, war doch klar, dass sich Mrs Jennings und Mrs Crippen nicht ausstehen konnten. Sie
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