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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Opernsängerinnen zu werden. Ich brauche nur den richtigen Stimmlehrer, das ist alles. Aber die kosten sehr viel. Die natürlichen Voraussetzungen sind da, sie müssen nur ausgebildet werden.«
    »Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte Hawley. »Stammen Sie ursprünglich aus New York?«
    Ihre Augen wurden schmal, sie beugte sich vor und sagte leise und verschwörerisch: »Wissen Sie, warum ich zu Ihnen gekommen bin?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin hergekommen, weil ich dort oben auf der Bühne gespürt habe, wie sich Ihr Blick in mich hineingebrannt hat.« Sie fuhr mit der Hand unter den Tisch und legte sie ihm sanft aufs Knie. Er fühlte, wie sich sein Körper vor Verlangen und Angst versteifte. »Und als ich Sie dann betrachtet habe, dachte ich, das ist ein ehrbarer Gentleman, und ich hätte nichts dagegen, ein Glas mit ihm zu trinken. Sie sehen so viel netter aus als die meisten Männer, die hier hereinkommen.« Damit lehnte sie sich wieder zurück – den Satz hatte sie schon oft gebraucht –, zündete sich eine weitere Zigarette an und wartete auf seine Antwort.
    »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so angestarrt habe«, sagte er.
    »Aber nein. Wenn ich auf der Bühne stehe, sollen Sie mich doch ansehen und sich nicht wie die anderen Narren hier einfach weiterunterhalten, während ich singe. So ist es richtig. Was machen Sie hier übrigens so allein?«
    »Ich hatte einen langen Tag und das Gefühl, ich könnte eine kleine Erfrischung brauchen. Normalerweise trinke ich nicht allein, aber heute Abend …«
    »Heute fühlt es sich richtig an, habe ich recht?«
    Er lächelte. »Ja«, gab er zu. »So in etwa ist es.«
    »Und wo ist Ihre Frau? Hat sie nichts dagegen, dass Sie allein in Music Halls gehen?«
    Hawley senkte leicht den Kopf. »Meine Frau ist vor drei Jahren gestorben«, sagte er. »Bei einem Verkehrsunfall.«
    Cora nickte, drückte aber keinerlei Mitgefühl aus. Sie sammelte Informationen und legte sie in ihrem Kopf ab, um sie zur rechten Zeit hervorholen und nutzen, oder besser: ausnutzen zu können. So saßen sie da und sahen einander an, nicht sicher, wie es weitergehen sollte. Bis sie einen Entschluss gefasst hatte. »Sind Sie hungrig, Dr. Crippen?«, fragte sie.
    »Hungrig?«
    »Ja. Ich habe noch nichts gegessen und dachte an ein kleines Restaurant. Würden Sie mich vielleicht begleiten?«
    Wieder musste Hawley an den Inhalt seiner Brieftasche denken, aber dieses Mädchen hatte etwas so wundervoll Anziehendes, und es war so lange her, seit er eine angenehme Unterhaltung mit einer Frau, oder überhaupt jemandem, geführt hatte, dass er einfach einwilligen
musste.
»Sicher«, sagte er. »Es wäre mir ein Vergnügen.«
    »Wunderbar«, sagte sie und stand auf. Er erhob sich ebenfalls, aber sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn zurück auf seinen Stuhl. »Ich will mich erst umziehen«, sagte sie. »Ich laufe schnell in die Garderobe, es dauert nur fünf Minuten. Sie werden doch noch hier sein, wenn ich zurückkomme?«
    »Auf jeden Fall«, versprach er.
    In der Garderobe, die sie sich mit drei anderen Mädchen teilte, schlüpfte Cora schnell aus ihrem Kostüm, sah sich im Spiegel an und überlegte, ob sie noch etwas mehr Lippenstift auftragen sollte.
    »Was hast du es mit einem Mal so eilig?«, fragte Lizzie Macklin, eine der Tänzerinnen, die es nicht gewohnt war, Cora so herumhasten zu sehen.
    »Ich habe eine Verabredung.«
    »Was ist daran so besonders? Du gehst jeden Tag der Woche mit einem anderen nach Hause.«
    Cora warf ihr einen bösen Blick zu, zog sich aber weiter um. »Ich weiß nicht«, sagte sie nach einer Pause. »Ich glaube, der jetzt könnte anders sein. Er scheint Geld zu haben.«
    »Bei dem Kerl letzten Samstag hast du das auch gedacht, und er hat gleich alles von dir gekriegt, oder?«
    »Er hatte eine Seidenweste und eine goldene Uhr. Wie konnte ich wissen, dass beides gestohlen war?«
    »Nun, du könntest damit anfangen, die Männer erst mal ein bisschen kennenzulernen. Oder spare für deine Gesangsstunden, wo es dir doch am Ende nur darum geht. Warum denkst du, dass gerade der jetzt anders ist?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Cora. »Nenne es Intuition, aber ich glaube, der könnte es sein. Ich weiß, es klingt dumm, aber ich glaube es wirklich. Wenn er ein paar Dollar in der Tasche hat, und keine Frau, könnte er doch der sein, der mir hilft, eine berühmte Sängerin zu werden.«
    »Eine berühmte Sängerin!«, sagte Lizzie. »Du willst immer mehr, als du

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