Der Fromme Dieb
jeder beliebige aus«, sagte Aldhelm.
»Aber wenn ich ihn sähe, würde ich ihn unter Tausenden wiedererkennen.«
»Ich habe ihn gefunden«, sagte Cadfael und schilderte Abt Radulfus unter vier Augen das Ergebnis seiner Nachforschungen. »Und er sagt, er würde den Mann wiedererkennen.«
»Ist er sich da sicher?«
»Er ist es. Und ich glaube ihm. Er ist der einzige, der das Gesicht des Mönchs gesehen hat – im Altarlicht, als sie die Reliquien fortbrachten. Das heißt, daß er ihn aus der Nähe und sehr deutlich gesehen hat, wobei das Licht für einen Augenblick unter seine Kapuze fiel Die anderen waren draußen, im Finstern und im Regen. Ja, ich denke, er ist sich sicher.«
»Und er wird kommen?« fragte Radulfus.
»Er wird kommen, sobald er Zeit hat. Er hat einen Herrn und viel Arbeit, denn er muß den Lämmern ans Licht der Welt verhelfen. Solange eins der Muttertiere in Gefahr ist, wird er sich nicht von der Stelle bewegen.
Aber wenn ich abends nach ihm schicke, wenn er sein Tagewerk beendet hat, wird er sich auf den Weg machen. Jetzt macht es noch keinen Sinn«, sagte Cadfael, »nicht bevor die anderen aus Worcester zurück sind. Doch wenn der Tag kommt, da ich ihn rufen lasse, wird er herbeieilen.«
»Gut!« sagte Radulfus nicht allzu begeistert. »Uns bleibt keine andere Wahl.« Es erübrigte sich, zu erläutern, warum es sinnlos war, schon jetzt nach dem Zeugen zu schicken. »Und, Cadfael, auch wenn dieser Tag gekommen ist, wollen wir diesen Zeugen nicht sofort bekanntgeben. Warnt niemanden vorher, damit weder Angst noch Gerüchte sich breitmachen.
Wir wollen möglichst vernünftig vorgehen und möglichst wenig Schaden für alle anrichten, auch für den Schuldigen.«
»Wenn Winifred unversehrt zurückkehrt«, sagte Cadfael, »soll die Angelegenheit ohne Schaden oder Schande für den Übeltäter beigelegt werden. Ich rechne fest mit ihrer Rückkehr und mache mir keine Sorgen um sie.« Und es dämmerte ihm plötzlich, wie recht Hugh gehabt hatte mit der Behauptung, er, Cadfael, spreche unwillkürlich von diesem »leeren«, so gut wie leeren Reliquienschrein, als würde er wirklich die Wundertätige enthalten. Und wie sehr er doch Winifred vermißte, samt ihrem vermeintlichen Schrein, dem ihr Name zu Würde verholfen hatte.
Und in ihrem symbolhaften Schrein, den sie also selbst billigte, kehrte »sie« am folgenden Tag in nobler Begleitung zurück.
Bruder Cadfael hatte Bruder Edmunds Vorräte im Arzneischrank aufgefüllt und trat eben aus der Tür des Infirmariums, als die Heimkehrer vor seinen Augen beim Torhaus einritten. Nicht nur Hugh, Prior Robert und die beiden Abgesandten aus Ramsey, die ihre Laiendiener wohl irgendwo zurückgelassen hatten, sondern zusätzlich noch zwei Pferdeknechte oder Knappen, oder was auch immer ihre Stellung sein mochte, und ein gedrungener Herr im besten Mannesalter, der zwar hinter den beiden Prioren an Hughs Seite umherritt, die Prozession jedoch ohne große Worte oder Gesten zu beherrschen schien. Seine Reitkleidung war kostbar, aber in dezenten Farben gehalten, das Roß unter ihm, ein stolzer Rappe, war prächtiger geschmückt als sein Reiter. Und hinter ihm, auf einem schmalen, von einem einzigen Pferd gezogenen Wagen – der Reliquienschrein der heiligen Winifred, gebettet auf edel gewirktes Tuch. Es war erhebend zu sehen, wie der große Hof sich füllte, als wäre die Botschaft von Winifreds triumphaler Rückkehr mit dem Wind verbreitet worden. Bruder Denis kam aus dem Gästehaus, Bruder Paul aus dem Schulzimmer, begleitet von zweien seiner Schüler, die hinter seinem Rock hervorlugten. Zwei Novizen und zwei Pferdeknechte eilten aus den Ställen und ein halbes Dutzend Brüder von ihren jeweiligen Pflichten herbei – alle waren zur Stelle, noch ehe der Pförtner aus seiner Loge treten konnte, um Prior Robert, den Sheriff und die Gäste zu begrüßen.
Tutilo, der bescheiden am Ende des Zuges ritt, sprang aus dem Sattel und stürzte herbei, um Herluins Steigbügel zu halten und seinem Herrn, wie ein höflicher Page, beim Absitzen zu helfen. Unser vorbildlicher Novize war vielleicht etwas zu beflissen für einen, der ein reines Gewissen hatte. Und wenn das, was Cadfael argwöhnte, tatsächlich der Wahrheit entsprach, so hatte der junge Mann allen Grund, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Der vermißte Reliquienschrein war, wie es schien, wieder an seinem Heimatort, und inzwischen gab es ja einen Zeugen, der genau würde erläutern können, auf welche Weise
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