Der Fromme Dieb
Darlegung der ganzen Geschichte der heiligen Winifred, ihrer triumphalen Überführung von Gwytherin in die Klosterkirche und von ihrem unerklärlichen Verschwinden während des Hochwassers mit schmeichelhafter Teilnahme gelauscht hatte. »Denn es hat den Anschein, als wäre sie ohne menschliches Eingreifen von ihrem Altar verschwunden – jedenfalls habt Ihr keine Spur von einem solchen Eingreifen gefunden. Und sie hat bereits, wie ich von Euch erfahre, verschiedene Wunder gewirkt. Ist es möglich«, fragte der Graf, ehrfürchtig an Prior Roberts tiefere Kenntnis in Sachen Heiligkeit appellierend, »daß sie sich zu einem besonderen wohltätigen Zweck auf so wundersame Weise von dem Ort entfernt hat, an den Ihr sie überführt hattet? Könnte sie den Wunsch gehabt haben, an einem anderen Ort als dem Euren einen segensreichen Auftrag zu erfüllen? Oder könnte sie gar eine Abneigung gegen ihren Aufenthaltsort verspürt haben?« Seine Fragen, obwohl durchaus ernst und ehrfurchtsvoll, ja fast demütig gestellt, ließen den Prior erbleichen und eine kerzengerade Haltung einnehmen. »Wenn ich zu dreist in geheiligte Bereiche eindringe, so tadelt mich«, sagte der Graf mit der unterwürfigen Süße eines frischgebackenen Novizen.
Dafür sehe ich kaum eine Möglichkeit, dachte Hugh, der dem allen mit einem Vergnügen zuhörte und zusah, das ihn an seine ersten und höchst behutsamen Gespräche mit Bruder Cadfael erinnerte, in denen sie sich, Schlag um Schlag und Schritt für Schritt über kleine Schlachtfelder hinweg bis hin zu einer dauerhaften Freundschaft angenähert hatten. Der Prior argwöhnte wohl, daß man sich über ihn lustig machte, denn er war kein Narr, doch er wollte nicht den Fehler begehen, einen Herrn von so hohem Range wie Robert Beaumont herauszufordern oder zu provozieren. Und außerdem hatte der andere strenge Benediktiner am Tisch sich schon ködern lassen. Herluins hageres Gesicht hatte plötzlich den Ausdruck berechnenden, wenn auch vorsichtigen Eifers angenommen.
»Mein Herr«, sagte er, sichtlich bemüht, einen Tonfall zu vermeiden, der triumphierend hätte klingen können, »selbst ein Laie könnte sich inspiriert fühlen, Prophezeiungen zu machen.
Mein Bruder Prior selbst hat ihr wunderwirkende Kräfte zuerkannt und sagt deutlich, daß bisher kein Mann gefunden wurde, der gestanden hat, den Reliquienschrein fortgetragen zu haben. Ist es deshalb verwegen anzunehmen, daß Winifred selbst ihre Gebeine auf den für Ramsey bestimmten Wagen brachte? Für Ramsey, das so schändlich von gottlosen Schurken ausgeplündert und beraubt wurde? Wo sonst könnte sie mehr benötigt und verehrt werden? Wo mehr Wundertaten für ein mißbrauchtes Haus vollbringen? Denn es ist ja nun ganz sicher, daß sie Shrewsbury auf dem Wagen mit den Spenden der Frommen für unsere notleidende und heimgesuchte Abtei verlassen hat. Dürfen wir die Augen vor ihren Wünschen verschließen, wenn es ihre Absicht war, ihren Segen dort zu spenden?«
Oh, da saßen sie nun, zwei stolze Hirsche, Geweih an Geweih, mit gesenkten Köpfen und rollenden Augen, ihre Kräfte sammelnd für den Stoß, der einen von ihnen aus der Arena werfen würde. Der Graf aber hob besänftigend die Hand, ohne freilich erkennen zu lassen, daß er den drohenden Zusammenstoß bemerkt hatte.
»Ich maße mir nicht an«, sprach er, »irgendwelche Ansprüche zu erheben. Wer bin ich schon, um solche Rätsel zu lösen? Denn Shrewsbury, das ist sicher, hat die Heilige aus Wales überführt, und in Shrewsbury hat sie Wunder getan und seine Ergebenheit nicht enttäuscht. Ich suche Rat und würde mich niemals erdreisten, ihn in solchen Angelegenheiten zu erteilen. Ich erwähne nur eine Möglichkeit. Sollten Menschen bei ihrem Verschwinden die Hände mit im Spiel haben, ist alles, was ich sagte, hinfällig, denn dann ist alles klar. Doch solange wir nicht wissen…«
»Wir haben allen Grund zu glauben«, ließ sich Robert in seiner Entrüstung ehrfurchtgebietend vernehmen, »daß sich die Heilige bei uns zu Hause fühlt. Wir haben es ihr gegenüber nie an Ergebenheit fehlen lassen. Ihr Tag wurde jedes Jahr feierlich begangen, und der Tag ihrer Überführung war uns besonders heilig. Einer unserer frommsten Brüder wurde durch sie von seiner Lahmheit geheilt und ist seither ihr ergebenster Diener und Verehrer. Ich kann nicht glauben, daß sie uns jemals aus freien Stücken verlassen wollte.«
»Ganz gewiß niemals mit der Absicht, Euch zu schaden«, rief Herluin.
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